Aktionsplan zum Jahrestag des IS-Überfalls auf Şengal

Am 3. August jährt sich der Beginn des IS-Genozids und Femizids an der ezidischen Bevölkerung von Şengal zum achten Mal. Frauenorganisationen rufen aus diesem Anlass bundesweit zu Gedenkaktionen auf.

Am 3. August jährt sich der Beginn des Völkermords der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) an der ezidischen Bevölkerung von Şengal zum achten Mal. Die an jenem Tag im Jahr 2014 begonnenen Angriffe führten nicht nur zu einer humanitären Katastrophe, sondern hatten zum Ziel, die ezidische Religionsgemeinschaft auszulöschen: Durch systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie der Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten erlebte die ezidische Gemeinschaft den von ihr als Ferman bezeichneten 74. Völkermord in ihrer Geschichte. Mehr als 10.000 Menschen fielen den Verbrechen des IS zum Opfer, über 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Mindestens 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt, weit mehr als ein Drittel von ihnen werden bis heute vermisst. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Femizid dar.

Kein Vergessen, kein Vergeben

Der ezidische Frauendachverband (SMJÊ), die europaweit vernetzte Bewegung kurdischer Frauen (TJK-E) sowie weitere Organisationen aus dem ezidisch-kurdischen Spektrum rufen aus Anlass des Jahrestags dieses Genozids und Femizids zu einem überregionalen Gedenken auf. In einer gemeinsamen Erklärung weisen sie darauf hin, dass Şengal heute zwar vom IS-Terror befreit ist. Der Kampf um Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des ezidischen Volkes werde aber durch die Interessen lokaler und internationaler Mächte überlagert. Hinzu kommt, dass Şengal immer wieder von der türkischen Luftwaffe bombardiert wird und Überreste der IS-Schergen ebenfalls Angriffe auf die Region durchführen. „Wir fordern endlich Frieden in Şengal und eine Aufarbeitung des Genozids und Femizids. Wir möchten am 3. August gemeinsam unsere Trauer, unsere Wut und unsere Entschlossenheit kundtun.“

Bundesweiter Aktionsplan

In vielen Städten sind für Mittwoch bereits Demonstrationen, Kundgebungen und andere Aktionen geplant, darüber hinaus wird für 11 Uhr zu einer Gedenkminute aufgerufen. Eine erste Übersicht sieht wie folgt aus:

Achim: Kundgebung | Am Marktplatz | 17.00 Uhr

Berlin: Kundgebung | Brandenburger Tor | 18.00 Uhr (ab 16.00 Uhr Infostand)

Bielefeld: Demonstration | Hauptbahnhof | 17.00 Uhr

Bremen: Kundgebung | Bremische Bürgerschaft | 16.00 Uhr

Celle: Infostand | Poststr./Ecke Stechbahn | 12.00 bis 16.00 Uhr

Darmstadt: Kundgebung | Luisenplatz | 18.00 Uhr

Dortmund: Kundgebung | Kampfstraße | 18.30 Uhr

Essen: Gedenkveranstaltung | Alte Synagoge | 19.30 Uhr

Frankfurt: Gedenken und Kundgebung | Ni Una Menos Platz (Liebfrauenberg) | 18.00 Uhr

Hamburg: Kundgebung | Jungfernstieg | 16.00 Uhr

Hameln: Demonstration | Hauptbahnhof | 14.30 Uhr

Hannover: Kundgebung/Demonstration | Hauptbahnhof/Ernst-August-Platz | 17.00 Uhr

Kiel: Kundgebung | Europa-Platz | 15.00 Uhr

Köln: Gedenken | Domplatte | 10.00 bis 12.30 Uhr

Mannheim: Kundgebung | Paradeplatz | 18.00 Uhr

Saarbrücken: Kundgebung | Europa-Galerie | 18.30 Uhr

Stuttgart: Kundgebung | Schlossplatz | 18.00 Uhr

Wesel: Demonstration | Am Berliner Tor | 16.00 Uhr (mit Emmerich, Duisburg, Bocholt, Moers)

Der letzte Genozid

Seit fünftausend Jahren lebt die ezidische Gemeinschaft in Mesopotamien, zwischen Euphrat und Tigris. Nicht erst mit dem Terror des IS in ihrem Siedlungsgebiet Şengal begann für die religiöse Minderheit mit vorchristlichen Wurzeln, die den Engel Pfau (Tawûsî Melek) verehrt, eine unglaubliche Kette von Verfolgung, sondern schon seit der Islamisierung des Mittleren Ostens. Diese blutigen Anschläge auf ihr Volk bezeichnen die Ezid:innen als „Ferman“. Während der Begriff im osmanischen Sprachgebrauch für ein Dekret des Sultans steht, nahm das Wort in der Sprache des „Volkes des Engels“ die Bezeichnung für Verfolgungen und Pogrome an.

Es wird davon ausgegangen, dass die Ezid:innen seit dem zwölften Jahrhundert Opfer von mindestens 74 Verfolgungswellen wurden. Zuletzt am 3. August 2014, als der selbsternannte IS über Şengal herfiel. Die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK hatten sich ohne Vorwarnung zurückgezogen und die dort lebenden Menschen schutz- und waffenlos den Islamisten überlassen.

Wem es gelang zu fliehen, zog sich auf den Şengal-Berg zurück. Dort schützte zunächst ein Dutzend Guerillakämpfer der HPG den Zugang zum Gebirge und verhinderte das Eindringen der Dschihadisten. Am 6. August kamen zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava den HPG zu Hilfe. Anschließend richteten die Kämpferinnen und Kämpfer einen Sicherheitskorridor ein, um die zu Zehntausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Menschen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten in den ersten Tagen bereits rund 50.000 Ezid:innen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden.


Nach dem Genozid und Femizid bauten die Ezid:innen eigene Verwaltungs- und Verteidigungsstrukturen auf. Diese wollen sie unter keinen Umständen aufgeben, um kein weiteres Massaker zu erleben. Tausende Vertriebene leben noch immer weit von ihrem Land entfernt, viele von ihnen in menschenunwürdigen Lagern in PDK-Gebieten. Die irakische Regierung hat bisher keine Schritte für die Rechte des ezidischen Volkes unternommen und versucht stattdessen zusammen mit der PDK, die Selbstverwaltung der Şengal-Region aufzuheben und das Gebiet unter ihre Kontrolle zu bekommen. Bei diesem von der Türkei orchestrierten Plan spielt die Zerschlagung der mühsam aufgebauten Autonomie eine entscheidende Rolle. Die Attacken reichen vom Abkommen vom 9. Oktober 2020 bis hin zu extralegalen Tötungen von Repräsentant:innen der Selbstverwaltung und der Verteidigungskräfte durch die Türkei.