Kein Urteil im Femizid-Prozess vor dem Göttinger Landgericht

Im Mordprozess gegen Cemal A. wurde gestern kein Urteil gesprochen. Die AG Prozessbegleitung kritisiert den weiteren Aufschub des Prozesses im Fall der Tötung von Besma A. Der Prozess wird im Januar 2023 fortgesetzt.

Die AG Prozessbegleitung kritisiert den weiteren Aufschub des Prozessendes im Mordprozess gegen Cemal A. vor dem Landgericht Göttingen durch das Agieren der Strafverteidigung. Die Verzögerung kommt zustande, weil die Verteidigung nicht – wie geplant – am gestrigen Prozesstag ihr Plädoyer hielt. Anstattdessen warf sie der Nebenklageanwältin Yana Tchelpanova, die in ihrem Plädoyer die Gewalt von Cemal A. gegenüber Besma A. als patriarchal benannte, falsche Tatsachenbehauptung vor und brachte vier weitere Beweismittelanträge ein. Die AG Prozessbegleitung sieht dies als eine Ablenkungs- und Zermürbungstaktik, die die These der Verteidigung vom „Schießunfall“ untermauern soll. Wie bereits an vorherigen Prozesstagen hat die AG Prozessbegleitung am Montag eine Mahnwache abgehalten, um der getöteten Besma A. mit Blumen, Kerzen und Schildern zu gedenken und Gerechtigkeit für sie einzufordern.

Gewalt an Besma A. wurde kaum thematisiert

„Im Plädoyer der Nebenklageanwältin Yana Tchelpanova ging es explizit um die Gewalt, die Cemal A. Besma A. angetan hatte. Diese wurde den gesamten Verlauf des Prozesses über kaum thematisiert. Der Fall wurde technisch als Schusswaffenunfall verhandelt. In dem Moment, in dem diese Gewalt und ihre Dynamiken zur Sprache kommen, versucht die Strafverteidigung, diesen Aussagen direkt die Grundlage zu entziehen. Sie fokussiert eine überspitzte Formulierung, schaltet die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwaltskammer ein und unterbricht den vorgesehenen Ablauf. Das verschiebt abermals den Fokus weg von der Gewalt, die Besma A. erfahren hat. Dass die Glaubwürdigkeit von Aussagen von Betroffenen von häuslicher oder sexualisierter Gewalt angezweifelt wird, können wir in unserem Rechtssystem widerkehrend beobachten“, ordnet Nele Möhlmann der AG Prozessbegleitung das Geschehen ein.

Vor der Einführung der Beweismittelanträge durch die Strafverteidigung hatte die Nebenklageanwältin Yana Tchelpanova sich den Plädoyers von Staatsanwalt und Nebenklageanwalt Koch angeschlossen, indem sie sich für eine Verurteilung wegen Mordes aus Heimtücke aussprach. Zusätzlich führte sie aus, warum es sich in diesem Fall um eine besondere Schwere der Schuld handele: Anhand der Aussagen der Nebenkläger:innen, der als Beweismittel im Prozess eingeführten Sprachnachrichten von Besma A. an ihre Familie sowie der Gewalterfahrung der Ex-Frau von Cemal A. lasse sich beweisen, dass der Angeklagte keinen respektvollen Umgang mit Frauen habe. Unter der Versteifung darauf, dass das Plädoyer die Formulierung der Nebenklagevertretung über Cemal A. „sich seiner Frauen entledigen [zu wollen] wie Kakerlaken“, unterbrach die Strafverteidigung zunächst den Ablauf, indem sie mit einem Strafantrag gegen Tchelpanova auf Grundlage von §183 GVG wegen Beleidigung und Schmähung des Angeklagten reagierte.

Ende des Prozesses wird verzögert

„Am gestrigen Prozesstag sehen wir eine Kontinuität darin, wie der Prozess in den letzten Monaten verlaufen ist: Die Strafverteidigung stellt zahlreiche haltlose Beweismittelanträge, die wiederum von der Kammer abgelehnt werden und verzögert so das Ende des Prozesses ohne tatsächliche neue Erkenntnisgewinne. Der Prozess dauert mittlerweile knapp zwei Jahre und ist eine Tortur für die Angehörigen von Besma A., insbesondere für Nebenklägerinnen, Besmas Schwester und Mutter. Was hingegen in den zwei Jahren Prozessgeschehen bis zum gestrigen Prozesstag kaum thematisiert und eingeordnet wurde, ist die patriarchale Gewalt, die Besma A. durch Cemal A. erleiden musste. Der Kälte des Gerichtsverfahrens und der Belastung für die Angehörigen wollen wir mit unseren Mahnwachen etwas entgegensetzen“, so Nele Möhlmann weiter.

Besma A. wurde in der Nacht vom 14. auf den 15. April 2020 von ihrem Ehemann in ihrem Wohnzimmer in Einbeck durch einen Kopfschuss getötet. Er gibt an, sie „aus Versehen“ erschossen zu haben. Besma A. wollte sich scheiden lassen. Statistisch stirbt in Deutschland mehr als jeden dritten Tag eine Frau durch die Hände ihres (Ex-)Partners, jeden Tag geschieht ein versuchter Feminizid. Für eine Frau ist die gefährlichste Phase in einer Beziehung die, in der sie sich für die Trennung entschieden hat. Diesem gesellschaftlichen Problem wird der Gerichtsprozess nicht gerecht, so das Urteil der AG Prozessbegleitung.

Der Prozess wird am 13. Januar 2023 fortgesetzt. Dann wird über die verbleibenden Anträge der Verteidigung entschieden. Es sind weiterhin die Plädoyers der Verteidigung angekündigt.