Jineolojî-Forschungscamp in Deutschland

In Deutschland hat ein Jineolojî-Forschungscamp stattgefunden. Vier Tage lang beschäftigten sich die Teilnehmenden damit, die Trennung der Menschen untereinander und von der Natur zu verstehen und zu überwinden.

Die Jineolojî-Forschungsgruppe hat mit neuen Interessierten im Sommer vier Tage zur Geschichte des Patriarchats und des Widerstands dagegen in Deutschland und darüber hinaus geforscht. Das Jineolojî-Komitee hatte zu diesem Forschungstreffen eingeladen, das sich um die drei Geschlechterbrüche, mit Bezug zu Mitteleuropa, drehte. Im Rahmen dessen beschäftigten sich die Teilnehmenden mit den Spuren matriarchaler Gesellschaften, der Patriarchalisierung Europas, der Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und vielem mehr.

Elefteria Hambi - Die Gefallenen sind unsterblich

Das Treffen wurde der 2019 in Kurdistan gefallenen Internationalistin Elefteria Hambi gewidmet, Elefteria, mit bürgerlichem Namen Eva Maria Steiger, hatte in Deutschland gegen die Zerstörung des Hambacher Forstes gekämpft und sich später den YPJ in Rojava angeschlossen. Nach dem Territorialsieg über den IS in Nordostsyrien ging sie in Berge zur Frauenguerilla YJA Star. Dort kam sie bei einem türkischen Luftangriff in Gare ums Leben.

Die Teilnehmenden des Jineolojî-Camps forschten u.a. zur Entstehung der Trennung zwischen Mensch und Natur und der damit einhergehenden Ausbeutung der Natur. Eine Trennung, gegen die auch Elefteria mit ihrem Handeln kämpfte. Das Camp begann mit einer Schweigeminute im Gedenken an Elefteria und weitere Gefallene. „Sie sind unsterblich, denn ihre Geschichten werden weitererzählt. Ein Gedenktisch im Raum begleitete uns die Tage über, von dort schauten die Gefallenen zu uns und Kerzen brachten Leben und Wärme in ihre Gesichter. Ich spürte Trauer und Kraft in der Gedenkminute“, so eine Teilnehmerin.

Auf der Suche nach den Spuren freier Frauen

Weiter berichtete die Teilnehmerin: „Thematisch eingestiegen sind wir in diesen Tagen mit einer Auseinandersetzung mit mythologischen und religiösen Erzählungen, die - so abstrakt sie auch klingen mögen - vieles an gesellschaftlicher Wahrheit einfangen und repräsentieren. Eine Aufgabe der Jineolojî, der Wissenschaft der Frau und des Lebens, ist es, in unserer Geschichte, in eben diesen Erzählungen, unseren Kulturen und Sprachen nach Spuren der ,freien Frau' und eines demokratischen Lebens zu suchen. Wobei Freiheit mehr bedeutet als individuelle Wahlfreiheit in einer kapitalistischen Gesellschaft, die auf Unterdrückung beruht, und Demokratie viel tiefer geht, als alle vier Jahre in eben diesem System wählen zu gehen.“

Eine andere Teilnehmerin, die das erste Mal dabei war, schildert ihre Erfahrungen, Fragen und Gefühle auf dem Jineolojî-Camp so:

Eine Teilnehmerin erzählt

Kopf an Kopf lagen wir und stellten immer wieder die Frage: „Was ist eine Frau?" Die Frage forderte mich heraus. Ist nicht vielmehr die Frage: „Wer ich bin?". Jedoch in der Frage nach mir selbst fehlt die Dimension, wie ich gesellschaftlich eingeordnet werde oder in was für einem gesellschaftlichen Bezug ich lebe. In der Runde fingen wir an, nach Bildern zu suchen. „Sie ist ein Mensch, eine rebellische Löwenmama, eine Brücke, die die Verbindungen hält zwischen Chaos und Ordnung, eine Heilerin, eine Künstlerin, ein unbegradigter Fluss, eine, die Lebendigkeit gebärt in all ihren Farben und Gerüchen, eine, die Weisheit in sich trägt, die Mut zu Entscheidungen hat."

Die Themen

Wir lernen von verschiedenen Freundinnen über die „Geschlechterbrüche“, wie Abdullah Öcalan sie definiert. Geschlechterbrüche sind Entwicklungen in der Geschichte unserer Gesellschaft, wodurch verschiedene Trennungen entstanden. Die Theorie ist, dass vor diesen Brüchen einst Gleichwertigkeit zwischen allen Geschlechtern und auch zwischen Mensch und Natur herrschte. Diese Gesellschaft wird in der Freiheitsbewegung auch „natürliche Gesellschaft" genannt.

Wir lernen, dass in Matriarchaten verschiedenste Kulturtechniken durch ihr Sozialgefüge das Streben nach Dominanz in Schach hielten. Eine der ältesten Freundinnen, die anwesend war, mit über 80 Jahren, hielt einen Vortrag über die Theorien von Heide Göttner-Abendroth und erzählte, dass dieses Sozialgefüge in Zeiten von Not kippte. Gebannt lauschte ich ihrer Geschichte, es fühlte sich nach etwas sehr Bedeutungsvollem an, zu verstehen, wie Gewalt in so hohem Ausmaß entstehen konnte. Sie sagte, dass in Matriarchaten Frauen als Gebärende heilig und sehr wichtig waren. Sie seien die Gärtnerinnen und Bäuerinnen und Ernährerinnen gewesen, während die Beute der Jäger von deutlich weniger Bedeutung für das tägliche Überleben gewesen wäre. „Durch Dürre und Kältenöte wurde die Ernte der Bäuerinnen weniger und die Bedeutung der Tierhaltung stieg. Die Männer, die für die Tierhaltung zuständig waren, mussten immer weiter weg von den Siedlungen ziehen, um fruchtbare Länderei zu finden. Schließlich entfernen sie sich ganz vom Mutterclan und zogen aus der eurasischen Steppe immer weiter u.a. auch Richtung Westen. Es begannen sich charismatische Führer unter ihnen zu bilden und patriarchales Verhalten prägte sich aus. Die Männergruppen fingen an, die Siedlungen, auf die sie stießen, auszubeuten, und so dehnte sich mit ihnen das Patriarchat aus.“ - „Spannend“, dachte ich und fragte mich gleichzeitig, was es heute braucht, um resistenter gegen Krisen zu werden und nicht auch in gewalttätiges Verhalten zu verfallen.

Abdullah Öcalan definiert den zweiten Geschlechterbruch mit der Entstehung monotheistischer Religionen, also Religionen, die zu einem Gott beteten. Mit dem „drittem Bruch" beschreibt er die Phase, in der wir jetzt leben. Der dritte Bruch ist die Loslösung von Herrschaft und Ausbeutung, so wie sie in Nord- und Ostsyrien versucht wird zu leben. Der Befreiungskampf gegen das Patriarchat findet natürlich schon Jahrhunderte, tausende Jahre lang statt. Wo es Unterdrückung gibt, gibt es immer auch einen Widerstand.

Die Gesellschaft transformieren

Strukturen um Männer, Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter von ihrem toxischen Verhalten zu befreien sind unter anderem Runden, in denen gegenseitig Kritik und Selbstkritik geäußert wird, damit die Verhaltensweisen, die aneinander beobachtet wurden, eingeordnet und
verändert werden können. Jeden Abend nach dem Essen fanden diese auch in unseren Bildungstagen statt.

Jin, Jiyan, Azadî

„Jin, Jiyan, Azadî“, riefen wir immer wieder gemeinsam, „Frau, Leben, Freiheit“. Im Kurdischen haben jin und jiyan denselben Wortstamm. Frau und Leben gehören also eng zusammen, und solange die Frauen nicht befreit sind, ist es die Gesellschaft auch nicht. Natürlich geht es immer um die Befreiung der gesamten Gesellschaft und nicht darum, dass Frauen über Männer herrschen, wie „Matriarchat“ manchmal falsch verstanden wird.

Es wurde viel gesungen und gekümmert, es wurden Geschichten erzählt und am Lagerfeuer wurde gespielt und getanzt. Ich selbst merkte in den Tagen immer wieder die Fragen und Trauma: Welche So-soll-ich-sein, Die-Frau-ist-immer-schuld und andere Unterdrückungen aus langer langer Geschichte von Hexenverbrennung, Kirchen-Schuldgefühlen, Verstummung, Liebsein-Zwang,
Gehorsamkeits-Hausfrau stecken noch in mir? Versuche ich als Frau so zu sein wie ein Mann? Was ist mein authentischer Ausdruck vom ICH-sein?

Bei allen war spürbar, wie bestärkend und wertvoll es ist, sich als Frauen und weitere widerständige Geschlechter auf eine Forschungsreise zu begeben.