Dritte Fachtagung „Genderstudien trifft Jineolojî“ durchgeführt

An der Goethe-Universität Frankfurt hat die dritte Fachtagung der Serie „Genderstudien trifft Jineolojî“ stattgefunden, diesmal mit dem Schwerpunkthema „Gesundheit und gutes gemeinschaftliches Leben – feministische, dekoloniale und jineolojische Zugänge“.

In der Goethe-Universität Frankfurt am Main fand am Freitag die Fachtagung „Genderstudies trifft Jineolojî“ statt. Es war die dritte Tagung in dieser Reihe, die diesmal das Schwerpunkthema „Gesundheit und gutes gemeinschaftliches Leben – feministische, dekoloniale und jineolojische Zugänge“ setzte. Die Veranstaltung, die hybrid stattfand, d.h. vor allem in Präsenz, aber auch mit Online-Beiträgen und Live-Übertragung, wurde als Kooperation des Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse (CGC) der Frankfurter Goethe-Universität, der Hochschule Emden/Leer, dem Center for Gender Studies der Universität Innsbruck und Kurd-Akad, dem Netzwerk kurdischer AkademikerInnen, organisiert.

Dersim Daǧdeviren von Kurd-Akad eröffnete die Konferenz und stellte das Team der Organisatorinnen vor. Daran schloss sich die geschäftsführende Direktorin des Cornelia Goethe Centrums, Prof. Dr. Bettina Kleiner, mit ihrer Begrüßung an und betonte die Bedeutung dieser Tagung für die Arbeit des Frankfurter Geschlechterforschungszentrums. Ein weiteres, bereits ins Thema einsteigendes Grußwort wurde von Dr. Tanja Scheiterbauer von der Goethe Universität vorgetragen.

Die Vorüberlegungen zum aktuellen Tagungsthema

Für das Organisatorinnenteam machten Vertretungsprofessorin Dr. Christine Löw und Dr. Mechthild Exo zunächst einen Rückblick zur Geschichte der Tagungen „Gender Studies trifft Jineolojî“, die als Idee Ende 2018 in Brüssel am Rande des Abendprogramms einer Tagung im EU-Parlament zur politischen Lösung für Kurdistan entstanden war. Dass daraus nicht nur eine einzelne Veranstaltung, sondern gleich eine ganze Serie werden würde, hatte damals noch niemand geahnt. Die Kernfragen und Gedanken der ersten beiden Tagungen im Oktober 2020 zur Frage „Wieviel Gesellschaftskritik braucht eine feministische Wissenschaft?“ und im Februar 2022 zum Thema „Natur, Körper und Geschlecht, eine Re-Aktualisierung“ wurden vorgestellt. Die Vorüberlegungen zum aktuellen Tagungsthema „Gesundheit und gutes gemeinschaftliches Leben – feministische, dekoloniale und jineolojische Zugänge“ wurden dann ausführlich dargelegt, um in die Inhalte der Tagung einzuführen.

Wie steht Krankheit im Zusammenhang mit Vergeschlechtlichung, Heteronormierung, Behinderung, Rassifizierungen, Klassenzugehörigkeit, Verarmungen? Wie werden Patient:innen und Gesundheitsleistungen zu Waren gemacht? Wie hängen ein „gutes Leben“, Gesellschaftsformen und tagtägliche Lebenspraktiken mit Gesundheit zusammen? Wie können wir an eine Geschichte feministischen Widerstandes gegen patriarchale, männerzentrierte Medizin anknüpfen, die den weiblichen Körper der Selbstbestimmung enteignet, zum Objekt und Mängelwesen macht und pathologisiert? Das waren einige der aufgeworfenen Fragen.

Wichtig für die Jineolojî: Der gesellschaftliche Zugang zu Wissen

Gleich zu Beginn im ersten Tagungspanel wurde das ganzheitliche Gesundheitsverständnis der Jineolojî vorgestellt, das Körper, Seele und die eigenen Gefühle genauso einbezieht wie ethische Werte und die Verbindungen zwischen Menschen, Natur und Gesellschaft. Elif Kaya vom Jineolojî-Komitee Europa führte die Tagungsteilnehmer:innen zunächst in die lange Geschichte von gesellschaftlichem Wissen zu Geburt, Heilung und Tod ein, das vor allem in der Hand von Frauen lag und mit wichtigen gesellschaftlichen Ritualen verankert war, um dann zur gegenwärtigen Situation zu kommen. Aus Perspektive der Jineolojî ist der gesellschaftliche Zugang zu Wissen, auch Gesundheitswissen wichtig. Die Bildung für ein präventives Gesundheitshandeln, eine gesunde Form des Lebens, sollte jede und jeden erreichen. Natürliche Heilweisen wie Heilkräuter können mit gegenwärtigem Medizinwissen verbunden werden, jedoch nicht als Medizin in der verbreiteten, mechanistischen Ingenieurdenkweise und ohne den Sexismus im Bereich der Medizin. Heilwissen, das traditionell in der Gesellschaft, vor allem bei den Frauen vorhanden war, dürfe nicht verloren gehen. Eine Dokumentation und Sammlung in Archiven von natürlichen Heilpraktiken, die alte Frauen noch kennen, sei heute wichtig.

Feministisches Gesundheitszentrum Stuttgart

Doris Braune vom Feministischen Gesundheitszentrum Stuttgart hat die Geschichte hinter diesen in den 1970er Jahren entstandenen Zentren erzählt. Am Anfang standen Selbsthilfegruppen und Selbstermächtigungen, u.a. durch vaginale Selbstbetrachtungen mit Spiegel, Taschenlampe und Spekulum. Auch eine Konferenzteilnehmerin, Hebamme, berichtete von dieser starken, engagierten Bewegung der Selbstermächtigung, die viele neue Räume und veränderte Praktiken, z.B. die Verbreitung von Hausgeburten, durchsetzen konnte. Es sei erschreckend, wieviel davon wieder verloren wurde. Das seien Niederlagen und es sei dringend notwendig, diese wieder rückgängig zu machen.

Angriffe auf das Heilwissen der Maya in Chiapas

Für wenige Minuten sprach online Micaela von der indigenen Organisation der Heiler, Heilerinnen und Hebammen (OMIECH) aus dem Hochland im mexikanischen Chiapas zu den Tagungsteilnehmer:innen. Das Praktizieren mit dem Heilwissen, das auf der Cosmovision der Maya basiert, wird derzeit massiv angegriffen. Sie werden zu einer Ausbildung mit Lizenzvergabe gezwungen, die Hebammen degradiert zu ausführenden Assistentinnen. Diese Ausbildung sei eine Form von Neokolonialismus. Eine traditionelle Hebamme sei eine freie Frau, die wisse, wann sie was zu tun hat. Wenn die traditionellen Hebammen und Heilerinnen verloren gehen, dann würde für die Frauen in Chiapas jede Form von Geburtshilfe unzugänglich werden.

Diskriminierung von Geflüchteten in der Gesundheitsversorgung

Zuena Orego und Esther Kabati von der Selbstorganisation geflüchteter Frauen „Women in Exile“ aus Brandenburg und Berlin haben ihre Kampagne zu Gesundheitsversorgung für alle ohne Diskriminierung vorgestellt. Sie berichteten von den massiven Behinderungen und Diskriminierungen, die sie als Geflüchtete in der Gesundheitsversorgung erleben. Sie organisieren Selbsthilfe u.a. auch zum Umgang mit dem Stress, den ein Leben im Lager, als Papierlose und/oder als Schwarze Frau in Deutschland hervorbringt. Unter anderem haben die Frauen von Women in Exile ein Gesundheitsmagazin (https://www.women-in-exile.net/health-magazine/) herausgegeben. Jedes Jahr machen sie eine Bustour durch Teile von Deutschland und besuchen dabei Lager, da viele Frauen dort abgeschnitten von solidarischen Unterstützungsstrukturen leben müssen. Eine zentrale Forderung von Women in Exile ist: Keine Lager für Frauen und Kinder – alle Lager abschaffen. Weil sie für viele Arbeiten auch nicht-geflüchtete Unterstützer:innen benötigen, haben sie Women in Exile and Friends gegründet. Sie haben dazu eingeladen, sie und ihre Arbeit kennenzulernen, die Website (https://www.women-in-exile.net/) und den Newsletter (https://www.women-in-exile.net/newsletter/) zu lesen und sie in einem ihrer Büros besuchen zu kommen.

Gesundheit hat viele soziale, ökonomischen, umweltbedingte Determinanten

Gabriele Dennert, Professorin für Sozialmedizin und Public Health an der Fachhochschule Dortmund, machte in ihrem Beitrag darauf aufmerksam, dass die Ottawa Charta von 1986 der World Health Organization (WHO, Teil der Strukturen der Vereinten Nationen, UN) ein kollektives Verständnis von Gesundheit formuliert und die Selbstbestimmung über das Leben betont. Gesundheit hat viele soziale, ökonomischen, umweltbedingte Determinanten. Um das auch ihren Studierenden zu vermitteln, hat sie ein begehbares Labyrinth entwickelt und für die Tagungsteilnehmer:innen im Vorraum mit Kreppband auf den Boden geklebt. Der Weg hindurch regt zur Reflexion z.B. über die Bedeutung sozialer Unterstützungsnetzwerke, der eigenen Wohnsituation, ökonomischer und ökologischer Bedingungen und weiteren Elementen an. Als Ärztin war Gabriele Dennert auch wichtig, dass die Heilmöglichkeiten der klassischen Medizin z.B. bei der Behandlung von Brustkrebs nicht zurückgewiesen werden.

Anna O’Neill, Ärztin und Mitglied des Jineolojî-Komitees Isles, Schottland, stellte kollektive gesellschaftliche Praktiken im Umgang mit Leben, Lebensbedingungen und Tod ins Zentrum ihrer Ausführungen. Krankheit und Heilung können nicht herausgelöst werden aus allen anderen Fragen des gesellschaftlichen Lebens. Die Trennungen und Isolation der Menschen voneinander in der kapitalistischen Moderne wie auch die Zerteilungen und Objektivierung der Körper mit sexistischen Vorzeichen müssen überwunden werden.

Über eine Form der Organisierung von Frauen um Gesundheitsfragen herum haben die Tagungsteilnehmer:innen von Dr. Ayse Dayi gehört. Anknüpfend an die Erfahrungen der Frauengesundheitsbewegung in den 1970ern bis zu den 2000ern in den USA, werden auch heute wieder feministische Kliniken, die emotionale Sicherheit und würdevolle Fürsorge genauso ernst nehmen wie physische Dimensionen von Heilung, und Heilkreise von Frauen aufgebaut. Verbindungen u.a. zu den Vorfahr:innen, zum Land und zu kulturellen Praktiken sind neben Erinnerungen, Anerkennung, tiefem Zuhören von sich selbst und anderen einige der Kernelemente dabei.

Kritik an dominant gesetzten Feminismus-Diskursen

Im Tagungsverlauf waren die Vorträge auf zwei Panel mit Vortragenden verteilt, darauf aufbauend wurde eine ausführliche gemeinsame Abschlussdiskussion über 90 Minuten geführt. Zunächst wurde die Frage beantwortet, ob Jineolojî nicht auf einem binären Geschlechterverständnis fuße. Diese Frage wurde geduldig beantwortet, obwohl es eine Frage ist, die, wie eine der Konferenzorganisatorinnen erklärte, auf jeder Jineolojî-Veranstaltung erneut gestellt wird und in ihren weiteren Ausprägungen bereits wiederholt als eurozentrisch-orientalistische Normsetzung kritisiert wurde. Sich zur queeren Auflösung der Geschlechter explizit zu erklären, ist zum Referenzpunkt für Anerkennung geworden. Diskurse, die Feminismus u.a. in Deutschland heute stark prägen, werden dominant gesetzt und andere Kämpfe um Geschlechterbefreiung mit diesem Schema gemessen, indem angenommen wird, dass Frau als Begriff zu verwenden bereits eine Festlegung auf starre Geschlechteridentitäten, in der Regel als heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit, bedeutet. Solche Praktiken verstellen ein Verstehen anderer, weltweit bestehender feministischer Diskurse, Bewegungen und Theorien bzw. der Wissenschaft Jineolojî.

Die Herausbildung von Frau-Sein analysieren

Elif Kaya erläuterte, dass es für Jineolojî wichtig sei, nicht auf zwei abgegrenzte Kategorien von Frau und Mann zu reduzieren, sondern alle Erscheinungsformen von Geschlecht zwischen bzw. neben Frau und Mann in ihrer Vielfalt zu sehen und Anerkennung zu geben. Es sei wichtig, erklärte Kaya, die Herausbildung von Frau-Sein, wie es unter den gegenwärtigen Verhältnissen besteht, zu analysieren. Vieles ist in der Geschichte konstruiert worden, aber um Frau-Sein zu verstehen, braucht es mehr als das.

In den weiteren Diskussionen ging es unter anderem um die Notwendigkeit von Selbstermächtigungen wie sie bereits durch Selbstorganisationsstrukturen und z.B. der Unabhängigkeit von institutionalisierter männer- und gewinnzentrierter Geburtsmedizin einmal erkämpft waren, jedoch wieder verloren gingen. Ein Faden, der sich durch die Diskussion zog, war die Frage, wie eine nötige Radikalität der Veränderungen beibehalten werden kann. Viele Errungenschaften wurden wieder verloren oder Kämpfe in reduzierter Form ins bestehende System integriert. Wie können die kapitalistisch-patriarchalen Rahmensetzungen aufgehoben werden? Wie geht eine Veränderung der Persönlichkeit einher mit Selbstorganisationsprozessen und revolutionären Systemveränderungen, die nicht als Machtfrage und Machtübernahme gedacht werden?

Im Anschluss an die Tagung wurde der Dokumentationsfilm „Audré Lorde – Die Berliner Jahre. 1984-1992“ gezeigt, der die Anfänge der Selbstorganisierung von Afro-Deutschen und Schwarzen Deutschen zeigt und wie Audré Lorde mit ihrem kämpferischen, freud- und genussvollen Leben ihre Krebserkrankung verlangsamte.