Jineolojî ist überall

Die Frauenwissenschaft Jineolojî ist in Nord- und Ostsyrien zu einem Projekt geworden, das alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst. Dabei achtet die Jineolojî auf regionale und kulturelle Besonderheiten.

Die Jineolojî, übersetzt „Wissenschaft der Frau“, ist zu einem zentralen Bestandteil der Revolution von Rojava geworden. Die Jineolojî betrachtet die individuelle Freiheit der Frau als unabdingbare Voraussetzung für die Freiheit der gesamten Gesellschaft und stellt die Untersuchung von Gesellschaft, Geschichte, Religion, Epistemologie und vielen anderen Bereichen aus Frauenperspektive in den Mittelpunkt. Dabei beschränkt sich Jineolojî nicht auf akademische Bildung, sondern baut Zentren auf, führt Seminare durch und arbeitet auf allen Ebenen aktiv an einem Empowerment von Frauen. Die Forschungsbereiche der Jineolojî wurden in Nord- und Ostsyrien im Jahr 2015 etabliert. Mittlerweile hat sich die Jineolojî auf jede Institution und jeden Aspekt des Lebens in Nord- und Ostsyrien verbreitet, von den Akademien über die Schulen und Universitäten, die Verteidigungskräfte, bis in die Basisräte und ihre Kommissionen hinein.


Jineolojî im Bildungssystem

Die Jineolojî arbeitet auf der Grundlage von Akademien, das heißt es werden Bildungseinheiten, die zwischen einer Woche und einem Monat dauern, durchgeführt. Außerdem wird an allen Bildungseinrichtungen in Nord- und Ostsyrien Jineolojî unterrichtet. Die Lehrenden in diesen Kursen werden in Jineolojî ausgebildet und die Kursmaterialien werden vom Jineolojî-Komitee vorbereitet.

Seit 2017 gibt es an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Literatur der Rojava-Universität eine Abteilung für Jineolojî. Bis zum Abschluss im Fachbereich Jineolojî dauert das Studium zwei Jahre. Sobald 2023 die notwendigen Infrastrukturvorbereitungen abgeschlossen sind, soll der Fachbereich in eine Fakultät umgewandelt werden. In allen Fachbereichen (Medizin, Politikwissenschaften, Bildung, Agrartechnik, Erdöltechnik, Presse usw.) der Rojava-Universität, der Kobanê-Universität und der Sharq-Universität wird Jineolojî als ein Teil der betreffenden Studiengänge unterrichtet. An den Oberschulen wird seit 2016 Jineolojî unterrichtet.

Einrichtungen der Jineolojî

Es gibt sieben Forschungszentren für Jineolojî, sie befinden sich in Dêrîk, Hesekê, Kobanê, Minbic, Tabqa, Efrîn-Şehba und Aleppo. Die Zentren arbeiten mit den verschiedenen Institutionen der Zivilgesellschaft zusammen. Im Rahmen der Jugendbewegung finden sogenannte Xwebûn-Camps statt. Xwebûn heißt Selbstwerden oder Selbstsein. Der Begriff wurde von Abdullah Öcalan im Zusammenhang mit seinen Vorstellungen von einem freien partnerschaftlichen Leben geprägt: Ein solches Leben bedeutet, Existenz und Bewusstsein eine neue Form zu geben. Diese Einheit von Existenz, Bewusstsein und Form wurde von Öcalan als Xwebûn definiert und in erster Linie den Frauen mit auf den Weg gegeben.

Die Jineolojî arbeitet auch im Bereich der Ökonomie. Immer wieder führt sie Workshops zum Thema Frauenökonomie mit den Ökonomiekomitees der basisdemokratischen Rätestrukturen in Nord- und Ostsyrien durch. Gleichzeitig arbeitet die Jineolojî mit dem Kongress für einen demokratischen Islam zusammen und führt Podiumsdiskussionen und Workshops durch. Auch im kulturellen, gesundheitlichen, diplomatischen und Bildungsbereich finden Jineolojî-Seminare, Diskussionen, Untersuchungen und Veranstaltungen statt.

Die Werke der Jineologî

Die Forschungen und Arbeiten der Jineolojî haben bereits eine große Menge an Literatur hervorgebracht. So gibt es Einführungen und weiterführende Werke in kurdischer und arabischer Sprache. Darüber hinaus sind Zeitschriften, Medienorgane und Internetportale entstanden, die sich mit Jineolojî beschäftigen. Die Jineolojî-Akademie publiziert mittlerweile Werke auf Kurdisch, Arabisch, Englisch, Spanisch, Deutsch und Italienisch, um die Frauenrevolution in Rojava und die Forschungsergebnisse der Jineolojî zu präsentieren.

Andrea-Wolf-Institut

2019 wurde das Andrea-Wolf-Institut gegründet. Andrea Wolf kam aus Deutschland und war Internationalistin und Kämpferin der kurdischen Frauenarmee YAJK. Sie wurde zusammen mit anderen kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern nach einem Gefecht mit der türkischen Armee am 23. Oktober 1998 gefangen genommen und extralegal hingerichtet.

Im Andrea-Wolf-Institut sind Internationalist:innen organisiert, welche die Gesellschaft in Rojava und in Europa analysieren und die Beziehungen zwischen den Frauenbewegungen weiterentwickeln. Eine aktuelle Arbeit der Jineolojî-Akademie des Andrea-Wolf-Instituts von Rojava ist die Broschüre „Den dominanten Mann töten und verändern”, die auch auf Deutsch erschienen ist.

Das Dorf Jinwar

Das Dorf Jinwar wurde am 10. März 2017 gegründet und am 25. November 2018 fertiggestellt. In dem von Frauen aufgebauten Dorf wurden eine ökologische Wirtschaft, Frauensolidarität und ein gemeinsames und freies Leben entwickelt. Jinwar liegt westlich von Dirbêsiyê. Der Rat von Jinwar wurde offiziell in dem aus 30 Lehmhäusern bestehenden Dorf am 6. Dezember 2018 gegründet. Im Dorf befindet sich die Jinwar-Akademie, die Üveyş-Grundschule, die Aşnan-Bäckerei, der Jinwar-Laden, das Gesundheitszentrum Şîfa-Jin und eine Farm. Das Dorf Jinwar basiert auf demokratischer Selbstorganisierung. In Jinwar wird eine autonome Frauenorganisierung und -ökonomie geschaffen und gleichzeitig zu Frauengeschichte und Wissenschaft geforscht.

Selbsterkenntnis

Die Sprecherin der Jineolojî in Nord- und Ostsyrien, Hena Dawûd, führt aus, dass sich die Jineolojî mit der Struktur der kurdischen, arabischen, armenischen und assyrischen Gesellschaft auseinandersetzt, mit den Besonderheiten dieser Gesellschaften und insbesondere der Rolle der Frauen darin. „Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie sich die Frauen aus den verschiedenen Gesellschaften selbst weiterentwickeln können und welche Perspektive sie auf die Jineolojî haben. Es geht um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sich selbst und sich selbst unter einer neuen soziologischen Perspektive kennenzulernen”, so Dawûd.

Regionale Unterschiedlichkeiten der Zentren

Die Regionen in Rojava und Nord- und Ostsyrien sind von verschiedenen Besonderheiten in der Zusammensetzung der Bevölkerung geprägt. Hena Dawûd erklärt: „Wir organisieren jedes Zentrum entsprechend der Besonderheiten der lokalen Bevölkerung und ihren Strukturen. Aber in jedem Zentrum werden die Geschehnisse und Fakten aus Frauenperspektive betrachtet. In Raqqa, Tabqa und im Zentrum von Minbic gibt es einen großen arabischen Bevölkerungsanteil. Dort wird sich mit den Besonderheiten des arabischen Volkes, seinen Traditionen und Bräuchen auseinandergesetzt, und diese werden berücksichtigt. Alle Frauen haben in etwa die gleichen Probleme, aber es bestehen geringe Differenzen entsprechend der Gesellschaft. Die Jineolojî setzt sich mit diesen Unterschieden sehr genau auseinander. Historisch gesehen ist das Problem der Frauen das gleiche, aber im Laufe der Zeit sind verschiedene Problemstellungen aufgetreten, und der Umgang der Jineolojî mit diesen Fragen variiert auch entsprechend der ethnischen Identität. Es gibt eine Vielfalt von Methoden, die unter dem Gesichtspunkt der ethnischen Identität und des einzelnen Problems auf verschiedene Weise angewandt werden. Es geht um Fragen wie zum Beispiel die Auswirkungen von Stammes- und religiösen Einflüssen auf arabische Frauen. Es geht um die Situation der Frauen und wie Lösungswege gefunden werden können. Unsere Zentren in den arabischen Regionen beschäftigen sich besonders intensiv mit Bildung. Es wird sich tiefgehend damit auseinandergesetzt, womit arabische Frauen zu kämpfen haben. Es geht um die Auseinandersetzung damit, wie die arabische Frau sich selbst betrachten und kennenlernen kann, wie sie sich mit ihrer Geschichte beschäftigen kann und wie sie das, was sie in ihrer Geschichte verloren hat, wiedergewinnen kann. Wir beschäftigen uns damit, wie sich die arabische Frau wieder selbst ausdrücken kann und welche psychischen Schwierigkeiten bestehen.“ Dem Bedarf entsprechend führt die Jineolojî auch Männerworkshops durch, sagt Dawûd und betont, dass diese Workshops ebenfalls den regionalen Bedingungen angepasst stattfinden.

Der Einfluss der Jineolojî auf Syrien

Dawûd berichtet, dass die Jineolojî versucht, alle Frauen in Syrien zu erreichen: „Die Jineolojî ist in ganz Syrien wirksam. Wir haben in allen Regionen Syriens Beziehungen zu aktiven Frauen. Wir haben insbesondere starke Kontakte zu Frauen in Damaskus, Aleppo und Suweida. Es ist wichtig, die Soziologie und Psychologie der Frauen in Syrien zu verstehen und Lösungen zu entwickeln. Die Jineolojî will die ganze Welt erreichen.“

Seminare und Podiumsdiskussionen

Die Jineolojî führt viele Seminare und Podiumsdiskussionen durch. Dawûd erklärt dazu: „Es ist sehr wichtig, die Grundlage für Diskussionen zu schaffen. Unser erstes Ziel ist es, arabischen, kurdischen, armenischen und assyrischen Frauen zu vermitteln, was Jineolojî ist. Wenn wir darüber sprechen, dann beziehen wir die Geschichte mit ein und versuchen, die Realität der Frau in Begriffe zu fassen. Die Frauen entdecken ihre verlorengegangene Geschichte wieder, lernen sie kennen und erzielen damit große Ergebnisse. Diese Bildungsprogramme haben bereits große Ergebnisse erzielt.“

Jedes Zentrum ist autononom

„Jedes Zentrum organisiert sich selbst. Jedes Zentrum hat die Eigeninitiative in Organisierung und ein eigenes System für Bildung, Diplomatie, Wirtschaft, Gesundheit, Medien und Archivwesen“, sagt Dawûd. „Die Jineolojî legt besonderes Gewicht auf die Diplomatie und versucht, die Frauen überall in den Städten zu erreichen. Wir unterhalten Beziehungen zu den Frauen des Frauenrates von Nord- und Ostsyrien. Es ist uns sehr wichtig, auch Beziehungen zu Frauenorganisationen aufzubauen, die andere Perspektiven haben. An den Universitäten und Schulen gibt es Unterricht in Jineolojî und entsprechende Abteilungen. Frauen und Männer haben sehr großes Interesse am Fachbereich Jineolojî.“

Von Politik bis Ökonomie

Jineolojî arbeite in vielen Bereichen, so Dawûd: „Es ist uns gelungen, durch die Kommunen, Räte, Universitäten und die Medien die Frauen zu erreichen. Es wird festgestellt, für welchen Bereich sie am besten geeignet sind. Es hängt davon ab, was die Frau braucht und in welchem Bereich sie sich selbst am besten ausdrücken kann. Dementsprechend findet die Planung statt. Es gibt unweigerlich einen Unterschied zwischen Frauen, die in der Ökonomie, in der Politik arbeiten und denjenigen, die Bildungsarbeit machen. Es ist eine Frage der Spezialisierung. Jeder Bereich hat seine eigenen besonderen Eigenschaften, aber jeder Bereich steht mit anderen in Beziehung und wird als ganzes betrachtet.”