Jineoloji-Fakultät: Eure Solidarität gibt uns Kraft

„In Rojava wurde jeder Schritt nach vorn durch Drohungen der Türkei beantwortet. Aber wir werden alles tun, um unsere Arbeit zu schützen und fortzusetzen“, schreibt die Jineoloji-Fakultät der Universität Rojava an ihre Partnerhochschule Emden/Leer.

Die Rojava-Universität in der nordsyrischen Kantonshauptstadt Qamişlo ist eine der Partneruniversitäten der Hochschule Emden/Leer. Angesichts der türkischen Invasion in Nordsyrien hatte der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der Hochschule Emden/Leer Anfang der Woche eine Solidaritätserklärung für die Studierenden der Universität Rojava und die Menschen in der Region abgegeben. Die Kooperationsbeziehung geht auf einen Beschluss des Fachbereichs für Soziale Arbeit und Gesundheit zurück. Der Fachbereich baut einen akademischen Austausch insbesondere mit der Jineolojî-Fakultät auf. Diese hat nun auf die Solidaritätserklärung der niedersächsischen Hochschule reagiert. In einem Schreiben heißt es:

„Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

Sehr geehrte Professorinnen und Professoren, Dozentinnenen und Dozenten

Sehr geehrte Studierende der Universität Emden,

Wir danken euch für eure Solidarität und Freundschaft. Wir schicken euch warme Grüße aus der Region des Widerstands gegen die unmenschlichen Angriffe, die zur Zeit auf unser Leben stattfinden.

Seit dem 9. Oktober 2019 greifen der türkische Staat und seine verbündeten dschihadistischen Gruppen Regionen in ganz Nord- und Ostsyrien an, insbesondere die Stadt Serêkaniyê (Ras al-Ain). In Folge dieser Angriffe wurden Massaker und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an unserer Bevölkerung und unseren Verteidigungseinheiten verübt. Diese finden mit Waffen statt, die von vielen verschiedenen Ländern an die Türkei verkauft wurden. Unsere Rechte auf Leben, Gesundheit und Bildung werden dadurch im höchsten Maße verletzt.

Seit Beginn der Rojava-Revolution im Jahr 2011 sind wir von brutalen Angriffen der türkischen Armee und von ihr aufgebauten bewaffneten Gruppen konfrontiert. Tausende Menschen haben ihr Leben im Kampf gegen den IS verloren oder sind verwundet worden. Gleichzeitig haben wir jedoch ein neues Lebenssystem mit einer autonomen und demokratischen Verwaltung aufgebaut.

Zum ersten Mal in der Geschichte konnten wir den Traum unserer Großeltern verwirklichen: Bildung in kurdischen Muttersprache und eine demokratische Universität! Der freie Wille der Frau, Demokratie und das Streben nach ökologischer Nachhaltigkeit sind die Grundlagen für alle unsere sozialen, kulturellen und politischen Strukturen. Frauen sind in allen Lebensbereichen, in der Verwaltung und Politik, vertreten und beteiligt.

Jeder Schritt nach vorn beim Aufbau unseres Systems der Selbstverwaltung der Menschen in Nord- und Ostsyrien wurde durch Angriffe der herrschenden Länder und Besatzungsdrohungen der Türkei beantwortet! Nur mit unseren Möglichkeiten der Selbstverteidigung widersetzen wir uns einer der größten NATO-Armeen. Hochtechnologische Kampfflugzeuge, Waffen und Bomben, die geschaffen wurden, um Menschen und Umwelt zu schädigen, werden heute an unserer Bevölkerung und unserer Heimat getestet.

In den letzten Tagen haben wir Verletzungen an Kindern, Jugendlichen und Frauen aus benachbarten Städten und Dörfern gesehen, die darauf hindeuten, dass die türkische Regierung und ihre Verbündeten auch chemische Waffen bei ihren Massakern in unserem Land einsetzen. Die Bilder, die in den internationalen Medien veröffentlicht wurden, reflektieren nur kleine Momente der gesamten Realität dieses Krieges! Die Menschen in Nord- und Ostsyrien erleben heute eine große Tragödie – wir wissen nicht, wie viel von dieser Realität euch erreicht hat.

Diese illegalen und grausamen Angriffe müssen unverzüglich gestoppt werden. Der türkische Staat und Erdogan müssen vor einem internationalen Gerichtshof für ihre Kriegsverbrechen angeklagt werden. Diejenigen, die Waffen und Kampfflugzeuge verkauft haben, machen sich mitschuldig an diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In den letzten Tagen haben viele Regierungen angekündigt, dass sie den Waffenhandel mit Erdogan stoppen. Dies ist ein positiver Schritt.

Aber weder der so genannte ‚Waffenstillstand‘ noch der Verzicht auf den Verkauf von Waffen an die Türkei hat den Krieg und die Massaker gegen unsere Bevölkerung gestoppt! Obwohl viele Länder die Aggression der Türkei verurteilt haben, hat dies nicht dazu geführt, dass die Angriffe angehalten haben. Internationale Gremien müssen wirksame Entscheidungen treffen und effektive Maßnahmen umsetzen – und zwar jetzt!

Das Dringendste ist, dass die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien gestoppt werden. Sie bedrohen unser Leben und berauben uns unserer grundlegendsten Menschenrechte wie unserem Recht auf Bildung oder die Umsetzung unseres Alltags. Wenn dieser Besatzungskrieg nicht gestoppt wird, sehen wir eindeutig die Gefahr, dass er zu einer ethnischen Säuberung führt. Die Massaker, die von dschihadistischen Gruppen ausgeführt werden, werden sich dann im gesamten Nahen Osten ausbreiten. Die Solidarität der demokratischen Kräfte weltweit gibt uns Kraft. Wir glauben, dass wir mit dieser Stärke in der Lage sind, eine freie und schöne Zukunft aufzubauen.

Seit Tagen sind wir pausenlos auf den Beinen. Wir haben uns den Massendemonstrationen angeschlossen, die fordern, diesen Krieg zu stoppen. Wir haben uns in den zivilen Arbeiten zur Unterstützung derer, die aus den Kriegsgebieten vertrieben wurden, beteiligt. Wir waren Teil von Rettungskonvois, die Verwundete aus den von der türkischen Armee belagerten Gebieten herausgeholt haben. Und wir werden weiter daran arbeiten, unsere Gesellschaft gegen die Qual des Krieges zu unterstützen und zu schützen, bis wir Bedingungen haben, unter denen unsere Universität ihre Arbeit wieder aufnehmen kann. So wehren wir uns gerade gegen die Besetzung und Zerstörung.

Wir verstehen sehr gut die Bedenken und Befürchtungen, die ihr als unsere Freundinnen und Freunde an der Universität Emden habt. Aber wir werden alles Mögliche tun, um unsere Arbeiten an der Universität und der Jineolojî-Fakultät zu schützen und fortzusetzen. Dies ist nur möglich, wenn die Bedingungen ein demokratisches Zusammensein garantieren, in dem der Wille der verschiedenen kulturellen, ethnischen und religiösen Gruppen unserer Gesellschaft anerkannt wird.

Wir setzen auf euer freundschaftliches Engagement und darauf, dass auch ihr euer Bestes geben werdet, unserer Stimme in der Welt ein Gehör zu verschaffen, um die andauernden Massaker und den Besatzungskrieg zu stoppen.

Wir hoffen, dass wir mit einem gemeinsamen Widerstand der Invasion ein Ende bereiten können und dass wir in dieser dunklen Zeit ein Lichtstrahl für eine bessere Zukunft und Menschlichkeit werden können.

Beste Grüße, Rojava Universität, Fakultät für Jineolojî“