Hungerstreik gegen Mauerbau: Prozess gegen Ayşe Gökkan wird neu aufgerollt

Eine Aktion der in der Türkei inhaftierten Ayşe Gökkan gegen eine Mauer zwischen Bakur und Rojava beschäftigt erneut die Justiz. Die kurdische Politikerin war wegen Betreten eines erst nachträglich als Sperrzone deklarierten Bereichs verurteilt worden.

Ein Hungerstreik der kurdischen Politikerin Ayşe Gökkan gegen eine Betonmauer zwischen Bakur und Rojava beschäftigt ab diesem Freitag in einem Revisionsverfahren erneut das Landgericht in Nisêbîn (tr. Nusaybin). Die 58-Jährige war Ende 2020 wegen unbefugten Betretens eines militärischen Sicherheitsbereichs und Sachschaden zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt worden. Ein regionales Berufungsgericht in Amed (Diyarbakır) hob das Urteil auf Antrag der Verteidigung, die Freispruch gefordert hatte, wieder auf. Zur Begründung gab es fehlende Beweise an. Nun wird der Prozess am Landgericht neu aufgerollt.

Nach der Vertreibung der Terrororganisation Al-Nusra und anderer Dschihadistenmilizen aus der westkurdischen Stadt Serêkaniyê (Ras al-Ain) in Nordsyrien durch die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) im Juli 2013 ordnete das türkische Innenministerium an, den Grenzstreifen zwischen türkischem Staatsgebiet und der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien einzumauern. Den ersten Spatenstich setzten die Behörden in der Stadt Nisêbîn, die gegenüber von Qamişlo liegt. Beiderseits der Grenze, die nach dem Ersten Weltkrieg willkürlich von den Kolonialmächten gezogen wurde, leben Kurdinnen und Kurden. Bis zu dem Mauerbau war es üblich, dass sich Familien am Grenzzaun trafen, um mit ihrer Verwandtschaft „auf der anderen Seite“ zu sprechen.

Aktion von Gökkan an der Grenze zwischen Nisêbîn und Qamişlo, Oktober 2013

Ayşe Gökkan war seinerzeit Bürgermeisterin von Nisêbîn. Im Oktober 2013 startete sie aus Protest gegen die Pläne der Regierung einen Sitzstreik am Grenzzaun, den sie nach einigen Tagen in einen Hungerstreik ausweitete. Als „Mauer der Schande“ hatte sie die massiven Betonelemente an der Grenze zwischen Nord- und Westkurdistan damals gegenüber der Presse bezeichnet. „Wir brauchen hier keine neue Berliner Mauer, keine Mauer der Schande. Eine solche Mauer wird zwischen die gemeinsame Zukunft des kurdischen Volkes gezeichnet.“ Erst nachdem Gökkan den Widerstand zum Schluss in ein Todesfasten umwandelte, lenkte die Regierung ein und erklärte den Mauerbau für beendet – nur um die Bauarbeiten Wochen später wiederaufzunehmen. Offiziell, um für mehr Sicherheit im Grenzgebiet zu sorgen und die Menschen davor zu schützen, in Minenfelder zu geraten.

Aktionsort erst nachträglich als Sperrzone deklariert

Der Aktionsort des zivilen Ungehorsams von Ayşe Gökkan galt zum damaligen Zeitpunkt offiziell noch als Parkanlage und wurde erst nach Fertigstellung des Bauwerks zu militärischem Sperrgebiet deklariert. Dennoch wurde die Politikerin knapp zwei Jahre nach ihrem Protest angeklagt. Der Prozess zog sich über fünf Jahre hin. Am Ende wurde Gökkan für schuldig befunden und die Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt. Zur Begründung hieß es zynisch: „In Anbetracht der kriminellen Persönlichkeit der Angeklagten versteht es sich, dass es nicht notwendig ist, die Strafe zur Bewährung auszusetzen, da der Schluss gezogen wird, dass sie erneut ein Verbrechen begehen wird.“

Gökkan im April 2020

TJA ruft zur solidarischen Prozessbegleitung auf

Die Bewegung freier Frauen (TJA) hat angekündigt, den neuen Prozess gegen ihre frühere Sprecherin Gökkan solidarisch zu begleiten. „Das gegenwärtige System hat hunderte Male versucht uns dafür zu belangen, dass wir das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Frauen machen wollen. Doch wir haben nicht aufgegeben. Ebenso wenig gab Ayşe Gökkan auf, die während ihrer Amtszeit als Bürgermeisterin die kurdische Lokalpolitik umformte und ihr eine demokratische Frauenperspektive verlieh“, erklärte die TJA in einer Mitteilung und rief Frauen auf, den Prozess zu beobachten. Selbst international wurde Gökkan damals nachgesagt, Nisêbîn zu einer wahren „Frauenstadt“ gemacht zu haben. „Um unsere Solidarität mit Ayşe zum Ausdruck zu bringen, werden wir am Freitag in Nisêbîn sein“, erklärte die TJA.

Ayşe Gökkan: Journalistin, Bürgermeisterin, Feministin

Ayşe Gökkan ist 1965 in Pirsûs (Suruç) geboren und hat Journalismus studiert. 2009 wurde sie mit 83 Prozent der Stimmen zur Bürgermeisterin der im Süden der Provinz Mêrdîn gelegenen Kreisstadt Nisêbîn gewählt. Mehr als 80-mal wurde sie im Zuge ihrer politischen Karriere von der türkischen Polizei festgenommen, mehrmals kam sie in Untersuchungshaft. Die Ermittlungsverfahren stützten sich in der Regel auf „Terrorvorwürfe“ im Zusammenhang mit der PKK. Zum Zeitpunkt ihrer letzten und – aktuell im Frauengefängnis Sincan bei Ankara – weiter andauernden Inhaftierung im Januar 2021 waren mehr als 200 Prozesse gegen sie anhängig, bei mindestens 167 davon handelte es sich um Einzelverfahren. Die meisten dieser Prozesse fallen in ihre Amtszeit als Bürgermeisterin. In mehreren Verfahren wurden bereits mehrere Jahrzehnte Freiheitsstrafe gegen Gökkan verhängt. Im April wurde ein Urteil über dreißig Jahre Gefängnis bestätigt. Dass sie die Strafe für die Ausübung demokratischer Grundrechte erhielt, ging faktisch aus der Urteilsbegründung hervor. Unter anderem wurde darin der in Amed ansässige – und legale – Frauenverein Rosa als „illegal“ klassifiziert und Gökkan ihr Engagement in der Hilfsorganisation gegen patriarchale Gewalt zur Last gelegt. Außerdem wurde ihr die Teilnahme an einer Kundgebung zum von der ebenfalls inhaftierten kurdischen Ex-Abgeordneten Leyla Güven begonnenen Massenhungerstreik zur Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan zur Last gelegt. Darüber hinaus habe die Politikerin die 2011 in Nisêbîn initiierte „Aktion für eine demokratische Lösung“ unterstützt. Dabei handelte es sich um eine Mahnwache mit der Forderung nach einem Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung.