Femizide sind Produkt des Systems

Die Anwältin Berfin Polat macht insbesondere die Politik der Straflosigkeit, die Sprache des herrschenden Diskurses und die Politik der Straflosigkeit für den Anstieg von Femiziden in der Türkei verantwortlich.

Unter der Regierung der AKP ist die Zahl der Femizide in der Türkei kontinuierlich angestiegen. Die Frauenbewegung TJA spricht von einem Anstieg um 1400 Prozent in 18 Jahren Herrschaft der AKP. Insbesondere in den letzten Jahren hat das Regime den frauenfeindlichen Diskurs verschärft und patriarchalen Gewalttätern durch den Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt Rückenwind gegeben. Rechtsanwältin Berfin Polat ist im Vorstand des Frauenvereins Rosa in Amed und hat sich gegenüber ANF zu den Hintergründen und der Dimension der Gewalt geäußert.

Politik der Straflosigkeit unterstützt die Gewalt

Die Anwältin kritisiert, dass es mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention nicht einmal mehr den Begriff der Gleichstellung der Geschlechter in der Türkei gebe und parallel dazu die Gewalttaten weiter zugenommen hätten. Ein wichtiger Faktor dabei sei die Straflosigkeit, sagt Berfin Polat. Sie führt aus: „Gewalt gegen Frauen in der Türkei wird in gewisser Weise durch die Politik der Straflosigkeit unterstützt und den Tätern wird regelrecht auf die Schulter geklopft. Wir können immer wieder beobachten, dass Täter desselben Verbrechens unterschiedliche Strafen erhalten. Das liegt daran, dass es in der Türkei so viele verschiedene Identitäten gibt.“

Zum Mord an der HDP-Mitarbeiterin Deniz Poyraz durch einen türkischen Faschisten im vergangenen Juni in Izmir erklärt Berfin Polat: „So wie der Fall Deniz Poyraz zeigt, kann es noch viel schlimmer sein, gleichzeitig Frau und Kurdin zu sein. Wenn verschiedene unterdrückte Identitäten zusammenkommen, können sich sowohl das Ausmaß der Gewalt als auch die Gewalt selbst ändern.

Hindernisse beim gemeinsamen Kampf gegen patriarchale Gewalt

Polat betont die Bedeutung des Zusammenschlusses von Frauenorganisationen gegen Gewalt an Frauen. An vielen Punkten stelle es jedoch ein Hindernis dar, einer anderen als der türkischen Identität anzugehören: „Manchmal ist es schwierig, eine Zusammenarbeit einzugehen, wenn verschiedene Identitäten involviert sind. Denn das Ausmaß der Diskriminierung, der die jeweils andere Identität ausgesetzt ist, ist unterschiedlich. Abgesehen von der weiblichen Identität verändert das Angehören einer anderen Identität auch das Ausmaß der Gewalt. Wenn man eine kurdische und eine weibliche Identität hat, dann ist das ein ganz anderes Problem.“

Die Morde sind politisch“

Berfin Polat sagt, dass viele Femizide gar nicht in den Medien auftauchen: „Allein im Juli wurden fast zwanzig Frauen ermordet. Zudem starben zwölf Frauen auf verdächtige Art und Weise. Heute ist dieses Phänomen der Gewalt durch den gemeinsamen Kampf von Frauen und den Mut, den sie sich gegenseitig geben, ein wenig sichtbarer geworden. Gewalt zu erleben und das zu verheimlichen, ist eine Form der Gewalt, die man sich selbst antut. Gewalt und Morde an Frauen sind vollkommen politisch. Sie haben als Ergebnis der Regierungspolitik und der Justizpraxis zugenommen. Immer wieder wenden sich von Gewalt betroffene Frauen an den Staat, an die Justiz, aber schließlich werden sie trotzdem ermordet.“

Es sind patriarchale Hassverbrechen“

Polat fährt fort: „Während Frauen, allein weil sie Frauen sind, ermordet werden, schützt der Staat sie nicht und bestraft die Täter nicht. Das ist nichts anderes als die Vernichtung eines Geschlechts. Darüber hinaus ist diese Situation systematisch geworden. Der Staat sollte nach dem Problem bei sich mindestens genauso intensiv suchen wie nach dem Täter. Frauen entwickeln sich, organisieren sich; das kann und will der Staat nicht ertragen. Deshalb wird zu Gewalt und Morden an Frauen geschwiegen und Partei für den Täter ergriffen.“

Erklärende Begriffe wie Ehrenmord oder Wutausbruch vermeiden“

Polat kritisiert auch die Berichterstattung in den Medien. Sie sagt: „Manchmal gibt es Aussagen in den Medien, die rechtfertigen, was der Täter getan hat. Potenzielle Mörder werden so in ihrem Handeln bestärkt. Femizide müssen nicht immer derart detailliert beschrieben werden. Man sollte potenziellen Tätern keine Handlungsanweisung an die Hand geben. Auch sollte es nicht zu Berichten kommen, die die Täterperspektive einnehmen und die Anschuldigungen und Aussagen des Täters wiedergeben. Denn es gibt die Frau nicht mehr, die etwas auf die Anschuldigungen des Täters erwidern könnte. Erklärende Begriffe wie Ehrenmord, Wutausbruch, Wahnsinn oder Krankheit sollten vermieden werden. Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt und Mord. Die Medien sollten vielmehr berichten, wohin sich Frauen wenden können, um Schutz zu erhalten, bevor sie ermordet werden. Es muss darauf fokussiert werden, dass sich die Frauen an die Justiz oder Behörden gewandt haben, um Schutz zu erhalten, aber sie dennoch ermordet wurden.“