In der Türkei finden am 14. Mai Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Sie werden von allen Seiten als historische Entscheidung erwartet. Für das AKP/MHP-Regime war die Situation niemals so kritisch. Insbesondere auch bei den Frauen wächst die Wut über die patriarchale, sexistische Politik des seit 20 Jahren herrschenden Regimes. In den letzten 15 Jahren der AKP-Herrschaft wurden mindestens 4.300 Frauen ermordet, unzählige Frauen erlebten sexualisierte Gewalt. Verantwortlich dafür sind auch die legitimatorischen Diskurse des Regimes und seiner Anhänger:innen und deren Niederschlag in der Sozialpolitik und Gesetzgebung. So hatte die AKP die von ihr selbst unterzeichnete Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt rechtswidrig einseitig aufgekündigt und Femizide erleichtert, indem das Gesetz 6284 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen angegriffen und ausgeschaltet wurde und Mörder straflos blieben. Mit der „Neuen Wohlfahrtspartei“ (Yeniden Refah Partisi), mit der sich die AKP zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen hat, wurde sogar über die Abschaffung des Gesetzes 6284 verhandelt.
Sezen Ezer vom Frauennetzwerk „Lila Solidarität“ (Mor Dayanışma) hat sich gegenüber ANF zur Situation der Frauen und den Wahlen geäußert. Sie zeigte sich kämpferisch und unterstrich, dass Frauen seit langem mit ihrer eigenen Agenda auf der Straße kämpfen und weiterhin gegen Armut und den Entzug grundlegender Menschenrechte eintreten werden.
Allianzpolitik auf frauenfeindlicher Grundlage
Zu den Wahlen treten drei Wahlbündnisse an. Das eine ist die Republikanische Allianz, die von der AKP und der MHP geführt wird. Dazu kommt die als Sechsertisch bekannte Nationale Allianz, die aus der kemalistischen CHP, der IYI-Parti und weiteren Parteien besteht. Demgegenüber steht die radikaldemokratische Opposition, die sich im Bündnis für Arbeit und Freiheit organisiert hat und unter anderem aus Grüner Linkspartei (YSP), HDP, EMEP und TIP besteht. Die Bündnisse haben ihre Wahlprogramme bereits vorgelegt.
Ezer nimmt zu den Wahlprogrammen der Republikanischen Allianz und der Nationalen Allianz wie folgt Stellung: „Mit dem Wahlprogramm legen die Bündnisse ihre eigenen Vorstellungen und Programme vor. Die Bilanz der Regierung, die seit Jahren an der Macht ist, ist in Bezug auf Frauen eindeutig. Vor allem in den letzten Tagen wurde das Gesetz 6284, das eine Garantie für Frauen darstellt, von ihr zum Verhandlungsgegenstand gemacht. Bündnisse werden auf der Grundlage von Frauenfeindlichkeit geschlossen. Andererseits sehen wir, dass in den angekündigten Programmen des Sechsertisches versprochen wird, dass die Istanbul-Konvention wieder unterzeichnet werden solle. Wir sind weder Wahlmaterial noch fallen wir auf die Versprechungen herein, die in unserem Namen über die Rechte gemacht werden, die bereits bestehen sollten oder die wir bereits gewonnen haben. Wir sind das Subjekt des Lebens und wir ziehen aus unseren Kämpfen die Kraft, weder die ungerechten Bedingungen, die man uns aufzwingen will, noch den Honig, den man uns um den Mund schmiert, zu akzeptieren.“
„Wir betrachten die Wahlen aus der Perspektive der Forderungen der Frauen“
Ezer betont, dass der Kampf gegen Frauenfeindlichkeit weitergehen wird, und fügte hinzu, dass die Frauenbewegung ihre Stimme gegen diejenigen erheben werde, die in ihren Wahlprogrammen keine realistischen Ansätze für die Lösung der Probleme der Frauen böten. Die Frauenbewegung werde die Wahlen auf der Grundlage ihrer eigenen Forderungen und nicht der Forderungen der politischen Parteien angehen.
Ezer weist auf einen drastischen Anstieg der Gewalt gegen Frauen unter dem AKP-Regime hin und hebt hervor, dass das Bündnis für Arbeit und Freiheit mit seinem Programm konkrete Lösungsansätze zum Vorgehen gegen die Gewalt biete. Dies wecke Hoffnung. Ezer warnt aber auch: „Doch der Weg ist noch lang, und wir Frauen werden während und nach den Wahlen weiter für unsere Rechte, unser Leben und den Aufbau eines neuen Lebens kämpfen.“
Frauen werden auch in der AKP mundtot gemacht
Mit dem Anstieg der Repression gegen die Opposition in den letzten Jahren habe auch die Unterdrückung von Frauen durch das AKP/MHP-Regime zugenommen. Die AKP unterdrücke auch Frauen in ihren eigenen Reihen massiv, sagt Ezer und verweist auf den Fall von Özlem Zengin, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AKP. Nachdem diese dagegen protestiert hatte, dass das in Artikel 6284 verankerte Gesetz zum Schutz von Frauen zum Verhandlungsgegenstand gemacht werde, musste sie nach Druck aus den eigenen Reihen ihre Kritik wieder zurücknehmen. Ezer kommentiert: „Bis dahin hatte Özlem Zengin immer Erklärungen zur Unterstützung der Frauenpolitik der AKP abgegeben. Zum ersten Mal hat sie mit dieser Erklärung, in der sie die lebenswichtige Bedeutung des Gesetzes 6284 für alle Frauen betont, Unruhe in der AKP-Basis ausgelöst. Wir haben wieder einmal gesehen, dass die AKP niemanden dulden kann, der ihren Ansichten widerspricht, vor allem, wenn es sich dabei um eine Frau handelt. Zengin erklärte auch, dass sie innerhalb der Partei angefeindet, isoliert und missverstanden wurde. Dies zeigt, dass die Frauen in der AKP-Basis mit dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention und der Frauenfeindlichkeit unzufrieden sind, und es besteht auch ein erheblicher Druck, dies zum Ausdruck zu bringen. Wir wissen sehr wohl, dass die AKP-Regierung die Verteidigung des grundlegenden Rechts auf Leben und die Stimme der Frauen nicht zu dulden bereit ist. Wir werden auch weiterhin unsere Stimme gegen diejenigen erheben, welche die Stimme der Frauen und ihr Forderungen nicht ertragen können.“
Worum geht es im Gesetz 6284
Das Gesetz 6284 wurde in enger Kooperation mit Frauenrechtsorganisationen verfasst und mit der Istanbul-Konvention 2012 eingeführt. Dieses „Gesetz über den Schutz der Familie und die Verhütung der Gewalt an Frauen” soll alle Frauen unabhängig ihres Zivilstandes vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützen und die Sanktionierung der Täter erleichtern. Die Regelung enthält theoretisch weitgreifende Maßnahmen: Einerseits hat die Polizei dadurch eine rechtliche Grundlage für Zugriffe bei häuslicher Gewalt. Andererseits garantiert das Gesetz betroffenen Frauen notwendige Leistungen wie etwa Schutz in einem Frauenhaus, temporären Schutz durch Begleitungen, finanzielle Unterstützung und eine Krankenversicherung. Außerdem können die Frauen ein Näherungs- und Kontaktverbot erwirken. So steht es jedenfalls im Text. Die AKP-Regierung hat dieses Gesetz systematisch hintertrieben, Frauenhäuser schließen lassen und auch Kontaktverbote wurden weder konsequent eingeführt noch durchgesetzt.