Die türkische Regierung erlebt ihren letzten Winter – Teil 3

„Die Unbesiegbarkeit der Guerilla beruht auf ihrem starken Bekenntnis zu den Werten, die Menschen menschlich machen. Keine Technik ist mächtiger als eine Person, die an eine Ideologie glaubt und sich dieser mit ihrem Leben verschrieben hat.“

Im dritten und vorletzten Teil des ANF-Interviews beleuchtet Zozan Çewlik, Kommandantin des Hauptquartiers der Frauenguerilla YJA Star, den Umstrukturierungsprozess der Guerilla, der unter dem Eindruck der Paradigmen asymmetrischer Kriegsführung seinen Fokus auf ideologische, organisatorische und militärische Aspekte legt.

Sie haben über den Widerstand gesprochen, den die neuzeitliche Guerilla auf Grundlage der Maßstäbe der demokratischen Moderne entwickelt hat. Können wir den Guerillakampf der Gegenwart als solchen des 21. Jahrhunderts definieren? Was war ausschlaggebend für die Errungenschaften der Guerilla?

Jedes Zeitalter hat seinen eigenen einzigartigen Charakter und Institutionalisierungsformen, Lebensweisen und Beziehungsarten, die diesem Charakter entsprechen. Parallel dazu entsteht ein dem Wesen des Zeitalters entsprechender Menschentypus. Hinsichtlich des 21. Jahrhunderts spiegelt sich der Charakter dieser Zeit auch in Armeeformen und Kriegstaktikten wider. In dieser Epoche, die auch als Informationszeitalter gilt, sichern die herrschenden Mächte jegliche Arten von Informationen und verwenden sie für ihre eigenen Interessen, nicht für die Bedürfnisse der Menschen. Wissen zu haben bedeutet Macht zu haben. Eine Dimension der Kriegsform des 21. Jahrhunderts lässt sich unter digitalen Medien, Internetkriegen und Cyberangriffen zusammenfassen. War es in der Vergangenheit noch so, dass Kriege zwischen zwei oder mehr militärischen Kräften geführt wurden und diese auf dem Schlachtfeld zusammenstießen, haben wir es heute mit dem System der kapitalistischen Moderne zu tun, das der gesamten Gesellschaft den Krieg erklärt hat. Deshalb wurde die Zahl der Armeen reduziert, die Stärke mobilisiert und der Krieg hat einen asymmetrischen Charakter erhalten. Die Kriegführung konzentriert sich nicht auf die zahlenmäßige Stärke, sondern wird dem technischen Niveau entsprechend entwickelt. Diesem Kriegsstil liegen künstliche Intelligenz und nachrichtendienstliche Informationsgewinnung zugrunde. Damit und durch den äußerst effektiven Einsatz von Methoden der Spezialkriegsführung wird angestrebt, Menschen im Sinne ideeller und menschlicher Werte zu töten, statt sie physisch zu vernichten. Der militärische Aspekt der Kriege des 21. Jahrhunderts, auch moderne Kriege genannt, bleibt sicherlich fundamental, der Hauptteil umfasst jedoch die Spanne, in der Wahrnehmungsoperationen geführt werden. Die militärische Phase wird binnen kurzer Zeit vollzogen und setzt auf diese Weise in der Endphase den Schlusspunkt.

Der Guerillakampf hingegen ist ein Kriegsstil, der von Unterdrückten, Völkern und kleinen Kräften gegen die zahlenmäßig und technologisch überlegenen Kräfte entwickelt wurde. Diese Definition bleibt auch heute allgemeingültig. Volksgruppen, Frauen und Unterdrückte können nur erfolgreich sein, wenn sie auch im 21. Jahrhundert den Guerillakampf gegen die Hegemonialmächte führen. Angesichts des Charakters der gegenwärtigen Zeit besteht natürlich ein Restrukturierungsbedarf bei den Regeln und der Vorgehensweise der Guerilla. Die von Mao festgelegten Prinzipien der Guerillakriegsführung wurden zu einer Quelle der Hoffnung für die Völker während und nach seiner Zeit, und viele Widerständigen entwickelten auf Basis dieser Grundsätze ihre eigenen Guerillabewegungen. Unsere Bewegung hat ihr Vorgehen und Handeln anhand der Strömungen in Vietnam und China bestimmt und ein eigenes Guerillasystem etabliert. Wir durchleben jedoch eine Phase, in der die Konstante im Laufe der Zeit überwunden und besiegt wird. Die Guerillaorganisierung ist eine flexible und flüssige Form der Organisation. Sie sollte sich jederzeit an jede Situation anpassen können.

Auch wir haben seit geraumer Zeit die Phase der Umstrukturierung auf unserer Agenda. Dieses Bedürfnis nach Erneuerung und Veränderung verspürten wir nicht allein aufgrund neuer Tendenzen des Feindes. Die von uns entwickelte neuzeitliche Guerillakriegsführung zeichnet sich ebenso wenig ausschließlich durch Selbstverteidigung aus. Als Ergebnis unserer Konferenzen, intensiven Diskussionen und militärischen Ausbildungsphasen haben wir eine neue Guerilla-Doktrin eingeführt. Selbstverständlich beschränkt diese sich nicht auf Theorie. Vor allem im Jahr 2021 ist die Guerilla der demokratischen Moderne in die Praxis umgesetzt und auf die Probe gestellt worden. Mittels einer intensiven Schwachstellenanalyse konnten Aspekte der Verwundbarkeit gezielt angegangen werden, ebenso wurden leistungsstarke Seiten vertieft. Wir glauben, dass diese Kriegsdoktrin, die wir als Guerilla der demokratischen Moderne bezeichnen, die zentrale Perspektive für alle Völker, Frauen und antisystemische Kräfte sein wird. In diesem Jahr haben wir in der Praxis konkretere Ergebnisse erzielt. Insbesondere die Professionalität der Guerilla hat sich durch gezielte Ausbildungen in Teilbereichen und Spezialisierung entwickelt. Der Teameinsatz etwa wurde viel effektiver umgesetzt. Erstmals in unserer Kriegsgeschichte ließen die Tunnelkämpfe den Feind trotz des Fehlens einer angemessenen Vorbereitung und mangelnder Erfahrung auf diesem Gebiet der Kriegsführung den Feind auflaufen. Aus der Praxis des Guerillakampfes der demokratischen Moderne 2021 haben wir lehrreiche Schlussfolgerungen gezogen. Angesichts dieser Ergebnisse haben wir erkannt, dass 2022 die Etablierung der Siegesguerilla möglich ist. Aus der Perspektive des letzten Jahres betrachtet können wir sagen, dass 2021 die Hoffnung neu belebt hat und der Glaube an den Sieg der neuzeitlichen Guerilla gestärkt wurde. Diese Phase zeichnet sich durch eine Reihe von Errungenschaften aus, die wir als einen Prozess zusammenfassen können, der sich dadurch auszeichnete, die Selbsterneuerung zu vollziehen, aus Fehlern und Unzulänglichkeiten lernen zu können, offen für Veränderungen zu sein und nicht in Dogmatismus zu verfallen. Sicherlich gab es auch Ansätze, die wir aufgrund der kurdischen Soziologie – dem Beharren auf Gewohnheiten oder individuellen Vorgehensweisen – zu Beginn die Veränderung verzögert haben. Es waren folgenschwere Herangehensweisen, da wir alle den Preis dafür gezahlt haben. Trotz allem hat sich die Guerilla vom Projekt des Wiederaufbaus überzeugt und mit eigenen Augen gesehen, dass sie dadurch fähig ist, dem Feind überlegen zu sein. Natürlich wurden all diese Erfolge nicht lediglich durch Veränderungen in der Organisierung, Aktionsform und Bewegungsweise erzielt. All diese Aspekte sind gewiss bedeutend, aber was die Guerilla unbesiegbar macht, ist ihre ideologische Haltung. Um es in einem Wort zu sagen; es ist der Apoismus. An erster Stelle steht die Verbundenheit zum Vorsitzenden (gemeint ist Abdullah Öcalan, Anm. d. Red.), zu den Gefallenen und den Weggefährt:innen. Die Unbesiegbarkeit der Guerilla beruht auf ihrem starken Bekenntnis zu den Werten, die Menschen menschlich machen. Keine Technik ist mächtiger als eine Person, die an eine Ideologie glaubt und sich dieser mit ihrem Leben verschrieben hat. Der PKK ist dies gelungen.

Letzter Teil: Entwicklungen der Frauenguerilla unter dem Eindruck des revolutionären Volkskrieges, Aktionsbilanz der YJA Star von 2021, Perspektiven für den weiteren Frauenbefreiungskampf.