Die türkische Regierung erlebt ihren letzten Winter – Teil 2

Die kurdische Guerilla beweist, dass das kapitalistische System die Sehnsucht der Menschheit nach Freiheit nicht töten kann, sagt die YJA-Star-Kommandantin Zozan Çewlik im zweiten Teil ihres Jahresrückblicks.

Zozan Çewlik, Kommandantin des Hauptquartiers der Frauenguerilla YJA Star, geht im zweiten Teil des ANF-Interviews über die Entwicklungen im Jahr 2021 auf den Frauenbefreiungskampf und die Bedeutung der Guerilla ein.

Seit einem Jahr läuft die von der KJK initiierte Offensive „Die freie Frau und Gesellschaft gegen den Feminizid verteidigen“. Wie bewerten Sie den Verlauf und welche Rolle spielt die YJA Star dabei?

Die Offensive ist von Frauen auf gesellschaftlicher, politischer und militärischer Ebene aufgegriffen und unterstützt worden. Auch die YJA Star hat sich mit Aktionen daran beteiligt. Frauen müssen sich im Kampf auf gemeinsame Ziele einigen und einen organisierten Willen entwickeln. Wenn einer Gesellschaft der Willen und die Identität genommen werden soll, wenn sie verkümmert, ihre Rechte vergewaltigt werden und Menschenhandel stattfindet, dann läuft das überall auf der Welt über die Frauen der jeweiligen Gemeinschaft. Für Frauen ist das eine große Beleidigung. Frauen sind im eigenen Haushalt, auf der Straße, bei der Arbeit, in der Schule und überall von dem immensen Druck des patriarchalen Herrschaftssystems betroffen, sie sind physischer und seelischer Gewalt ausgesetzt. Der gesellschaftliche Verfall findet auf dem Rücken von Frauen statt und ist weltweit zu einem grundsätzlichen Problem geworden. Die Morde an Gülistan Doku, Özgecan, Deniz Poyraz, Ipek Er und Pınar Gültekin in der Türkei sind das Produkt männlich-staatlicher Gewalt.

Gegen diese Morde haben Frauen massiv protestiert...

Selbstverständlich. Die Frauenbewegungen entwickeln sich und es wird versucht, derartige Morde ans Tageslicht zu bringen und zu verhindern, es wird eine Diskussion darüber angeregt. Im Rückblick auf 2021 lässt sich festhalten, dass die Frauenbewegungen insgesamt eine wichtige Entwicklung durchgemacht haben. Sie bringen Probleme auf die Tagesordnung und versuchen, eine gemeinsame Haltung zu zeigen. Soziale Probleme werden als politische Frage betrachtet und es wird nach Lösungen gesucht. Frauen bestimmen ihre eigene Agenda und ihr sozialer und politischer Kampf gewinnt an Einfluss. Wenn Frauen über ihre eigenen Probleme diskutieren, sie auf die Tagesordnung bringen und organisiert gegen das patriarchale System vorgehen, erkämpfen sie sich damit nicht nur eigene Rechte, sondern leiten einen mentalen Wandel in der Gesellschaft ein. Der innerhalb des Systems herrschende einseitige politische Wille, die zentralisierte Regierungsform, menschliche Beziehungen und sogar innerfamiliäre Beziehungen werden wieder zweiseitig wahrgenommen. Das hat eine ausschlaggebende Bedeutung für die Überwindung der Denkweise im patriarchalen System. Es geht um einen Kampf für Gerechtigkeit, der zunehmend auch Freiheit mit sich bringt.

Aus diesen Gründen beeinflusst der von Frauen geführte Kampf die aktuellen politischen Entwicklungen. Aufgrund der auf männlicher Herrschaft basierenden politischen Kultur wird dieser Einfluss nicht wahrgenommen oder auf verschiedene Weise geringgeschätzt. Wenn wir jedoch die politischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Probleme aus Frauenperspektive zu betrachten beginnen, sehen wir die Veränderungen und den Wandel, die durch die Arbeit und den Kampf von Frauen entstanden sind.

Organisatorische Schwäche stärkt das Herrschaftssystem

Organisatorische Schwäche stärkt das herrschende System und organisatorische Erfolge schwächen es und machen es unnötig. Aus dieser Angst heraus werden der Einsatz, die Worte und die Aktionen von Frauen herabgewürdigt. 2021 hat der Frauenkampf an einigen Orten weltweit wichtige Entwicklungen hervorgerufen. An anderen Orten war er schwach, wodurch sowohl Frauen als auch die Gesellschaft geschwächt wurde. Die Welt erlebt jetzt ein Ungleichgewicht. Dieses Ungleichgewicht durch den gemeinsamen Frauenkampf zu beheben, ist eine unserer grundlegenden Aufgaben.

Frauenbefreiungskampf in Kurdistan

Der Frauenbefreiungskampf in Kurdistan und auch die Frauenguerilla haben in diesem Jahr wichtige Entwicklungen vorangetrieben. Frauen waren in allen Bereichen unseres Kampfes aktiv und haben ihre kämpferische Identität mit diversen Aktivitäten zum Ausdruck gebracht, sowohl hinsichtlich der kurdischen Frage als auch der Frauenfrage. Als YJA Star haben wir beide Dimensionen auf grundsätzliche Weise auf unsere Tagesordnung aufgenommen und eine entsprechende Aktivität entwickelt. Durch taktischen Reichtum und Kreativität hat unser dynamischer und aktionistischer Charakter zugenommen. Mit Guerillaaktionen wurden Probleme von Frauen in der Gesellschaft aufgegriffen und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, um den Feminizid zu stoppen.

Hohe Ansprüche für 2022

Gegen die politische und militärische Realität im männlichen Herrschaftssystem, die weltweit eine erschreckende Dimension angenommen hat, mit unseren Herzen, unseren Köpfen und unserem Mut anzukämpfen und den Guerillakampf freier Frauen mit unseren eigenen Werten weiterzuentwickeln, ist sehr wichtig. Im Mittleren Osten und weltweit nimmt die Wirkung des organisierten Kampfes von Frauenverteidigungskräften zu, sie kennen sich selbst, werden stärker und beeinflussen die Entwicklungen. Für das kommende Jahr gilt es, weitere Entwicklungen zu erkämpfen und immer noch ungelöste Widersprüche zu lösen. Hinsichtlich unserer Errungenschaften sind wir zum Jahreswechsel hoffnungsvoll und lebendig. Was die Lösung ungelöster Probleme betrifft, sind wir kämpferisch, beharrlich und entschlossen. 2022 beginnt für uns mit hohen Ansprüchen, wir werden uns weiterentwickeln und noch größere Wirkung entfalten.

Der türkische Staat ist mit Besatzungsangriffen und großer Propaganda über die Zerschlagung der PKK in dieses Jahr gestartet. Inzwischen steht die AKP/MHP-Regierung kurz vor der Auflösung. Im Krieg gegen die Guerilla wurden schmutzige Methoden angewandt und sogar Chemiewaffen eingesetzt. Inwieweit hat der Guerillawiderstand zu dem jetzigen Zustand der türkischen Regierung beigetragen?

Der kolonialistische türkische Staat sagt seit der PKK-Gründung am 27. November 1978 jedes Jahr, dass er uns eliminieren wird. Seit 43 Jahren macht er Propaganda und nennt seine Operationen Sandwich, Stahl oder Besen. Seine jüngsten Besatzungsangriffe hat er Tigerklaue und Blitzschlag genannt. Offenbar hat er seine Lügen so oft wiederholt, dass er in diesem Jahr selbst daran geglaubt hat, innerhalb kurzer Zeit einschneidende Ergebnisse erzielen zu können. Zu Beginn des Winters wurde erklärt, dass dies der letzte Winter für die PKK ist. Mit dem großartigen Kampf der Freiheitsguerilla Kurdistans hat jedoch der letzte Winter der AKP/MHP-Regierung begonnen. Sie wollte die PKK zerschlagen und steht jetzt selbst kurz vor der Auflösung.

Eine Bewegung mit Selbstvertrauen

Eine Macht, die Angst hat und keinen Ausweg sieht, greift zu allen Methoden, um sich zu retten. Daher sind in diesem Jahr massiv Chemiewaffen gegen die Guerilla eingesetzt worden. Es gibt keine Methode, zu der der Faschismus nicht greifen würde, wenn er in Bedrängnis ist und begreift, dass er besiegt wird. Mit Chemiewaffen und tonnenweise Granaten gegen junge Menschen Krieg zu führen, die sich noch im Frühling ihres Lebens befinden, ist feige. Diese Angriffe sind grausam und niederträchtig. Wir haben mehrmals an die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) und die internationale Öffentlichkeit appelliert, unsere Angaben vor Ort zu überprüfen. Wir sind eine Bewegung mit Selbstvertrauen und wissen, was wir warum sagen. Gegen die Chemiewaffeneinsätze sind einige Erklärungen abgegeben worden, sowohl aus unserem Volk als auch in der internationalen Öffentlichkeit. Das reicht jedoch nicht aus. Wer zu dem Vorgehen in Kurdistan schweigt, sollte sich ebenso wie die Täter vor der Menschheit schämen.

Prototyp des freien Menschen

Der Widerstand und die effektiven Aktionen der Guerilla haben zu einer Enthemmung der faschistischen Regierung geführt. Wir erwarten auch noch ungehemmtere Angriffe, denn wir sind uns bewusst, wie sehr wir sie bedrängt und in eine ausweglose Lage gebracht haben. Gegen diese Angriffe kann die Guerilla nur Widerstand leisten. Guerilla bedeutet Widerstand, erfolgreichen Widerstand. In den rebellischen Bergen Kurdistans wird eine dermaßen wertvolle Haltung gezeigt, dass es für uns angesichts des im 21. Jahrhunderts herrschenden Individualismus, Egoismus, Materialismus und der Entmenschlichung in jedem Moment eine Ehre bedeutet, immer noch mit solchen Menschen zusammenzuleben, mit ihnen befreundet zu sein und in derselben Stellung zu kämpfen. Die Freiheitsguerilla Kurdistans ist der konkrete Beleg dafür, dass das kapitalistische System die Sehnsucht der Menschheit nach Freiheit nicht töten und ihr die Werte einer ethisch-politischen Gesellschaft nicht nehmen kann. Das menschliche Wesen strebt nach Freiheit und dem, was schön, gut und richtig ist. Auch wenn versucht wird, dieses Wesen erodieren zu lassen und zu vernichten, bleibt die Guerilla der Prototyp des freien Menschen und baut Schritt für Schritt ein freies Leben auf.