Zozan Çewlik, Kommandantin des Hauptquartiers der Frauenguerilla YJA Star, hat in einem ausführlichen ANF-Interview die Entwicklungen im Jahr 2021 bewertet. Die Guerillakommandantin weist auf die Intensität der stattgefundenen Kämpfe hin und erinnert an die Gefallenen der Befreiungsbewegung. Im Rückblick auf das vergangene Jahr aus Sicht der kurdischen Frauenguerilla erklärt Zozan Çewlik:
Im 21. Jahrhundert und damit auch im Jahr 2021 haben sich weltweit Ungerechtigkeit, Unrecht und Unterdrückung verschärft und treten in verfeinerter Form auf. Die unterdrückte Menschheit verliert durch Armut, Hunger, Krankheiten und Arbeitslosigkeit täglich weiter an Kraft und Willen. Opfer dieses Herrschaftssystems sind vor allem Frauen und Kinder. Die Völker und die Frauen können sich gegen dieses faschistische System nicht verteidigen, weil sie ihre Mittel der Selbstverteidigung und ihre Fähigkeit zu organisierter Aktion auf globaler Ebene nicht vereinen konnten.
Weltweite und regionale Verschärfung von Konflikten
2021 war sowohl weltweit als auch in der Region und in Kurdistan ein intensives Jahr. Die herrschende Politik, die das Jahr geprägt hat, zeichnet sich durch eine Herangehensweise aus, mit der den bestehenden ungelösten Probleme neue Konflikte hinzugefügt werden. Auch hinsichtlich der kurdischen Frage, die von unserer Bewegung als eine Frage der Freiheit behandelt wird, wurde innerhalb dieses ausweglosen Gewaltstrudels auf Vernichtung gesetzt. Zu diesem Thema entwickeln die Machthabenden in der Türkei und die regionalen Elemente sowie die USA und die NATO keine neuen politischen Ansätze, sie beharren auf der Verleugnung und Vernichtung unserer Befreiungsbewegung. Das internationale Komplott gegen unsere Führung und unsere Bewegung geht in breiterer und tieferer Form weiter. Natürlich ist auch der Widerstand gegen diese reaktionär-faschistische Allianz in diesem Jahr fortgesetzt worden. Der apoistische Geist und Willen kapituliert nicht vor dem Vernichtungskonzept und ist keinen Schritt zurückgewichen.
Frauenguerilla als elementarer Bestandteil
Wir haben das Jahr mit einer fundierten Planung begonnen und einen Großteil davon umgesetzt. Als Kommandantur und Kämpferinnen der YJA Star haben wir im vergangenen Jahr in einer Form gekämpft, die der Strategie des revolutionären Volkskriegs und der Guerilla der demokratischen Moderne entspricht.
Die Entwicklung eines freien Lebens in Kurdistan ist für Frauen ebenso wichtig wie für unser Volk und die anderen Völker. Daher sieht unsere Kampfperspektive vor, dass Frauen sich aktiv und führend an dem Befreiungskampf beteiligen. Wir betrachten den Guerillakampf von Frauen als elementar für die Entstehung einer freien Frauenidentität und seine Organisation und Weiterentwicklung als historische Verantwortung.
Vom Kolonialismus verursachte Wunden
2021 war ein außergewöhnliches Jahr in unserer Kampfgeschichte und auch die feindlichen Angriffe waren anders als in den vorangegangenen Jahren. Natürlich gibt es seit langer Zeit ein kolonialistisches Vernichtungskonzept gegen unsere Bewegung, aber ich glaube, dass in der Geschichte eines Volkes, einer revolutionären Bewegung und sogar eines Nationalstaats noch nie eine kriegsführende Macht auf diesem Niveau und mit einer solchen Intensität Technik eingesetzt hat. In Kurdistan gibt es gibt es keinen Boden, Baum, Stein oder Felsen und kein Lebewesen, das nicht von Geschossen, Raketen, Bomben und Waffenteilen getroffen worden ist. In unserer Region lebt so gut wie alles mit einer vom Kolonialismus verursachten Wunde.
Angriffsziel war die Zentrale der Guerilla
Zu diesem Zweck hat die faschistische Kolonialarmee der Türkei am 10. Februar in Siyanê in der Region Gare mit einer Sonderoperation ein Camp von uns angegriffen, in dem sich Kriegsgefangene befanden. Dabei handelte es sich nicht nur um eine Operation. Der Angriff verfolgte ein vielschichtiges Ziel. Das Ziel war die Zentrale der Guerillabewegung. Es war das erste Mal, dass die türkische Armee eine solche Militäroperation durchführte. Unter der Führung von Heval Şoreş Beytüşşebap wurde den Besatzungskräften ein effektiver Schlag versetzt. Der Sieg der Guerilla in Gare war eine herbe Niederlage für die AKP/MHP-Regierung.
Mit dem Besatzungsangriff auf Zagros, Avaşîn-Basya, Zap und Metîna am 23. April wurde bezweckt, die durch den Sieg von Gare bei unseren Kräften und im Volk entstandene psychologische Überlegenheit zu brechen. Das war natürlich nicht das einzige Ziel der Invasion. Sie war bereits vorher geplant, aber die Niederlage des Feindes in Gare führte dazu, dass der Besatzungsangriff auf einen früheren Zeitpunkt geschoben wurde.
Nach Gare war nichts mehr wie früher
Nach Gare war für den Feind ebenso wie für die Guerilla nichts mehr wie früher. Die Opferbereitschaft, der apoistische Geist, die Freundschaft, Verbundenheit, Überzeugung, Leidenschaft, das Vertrauen, die Liebe und die Rache aus unserer 43-jährigen Kampfgeschichte haben eine höhere Ebene erreicht, einen Gipfel. Es hat ein Widerstand stattgefunden, den es so noch nicht gegeben hat. Er ist schwer zu beschreiben, Worte verlieren dabei an Bedeutung. Dieser Widerstand bietet Stoff für Romane, Lieder, Gedichte und Filme. Angefangen mit Gare haben wir nacheinander in Mamreşo, Girê Sor, Zendura und Werxelê konkrete Aktionen und die Falken-ähnliche Schlagkraft der modernen Guerilla miterlebt.
Der Feind hat die Guerilla nicht zur Kapitulation zwingen können und sie mit chemischen Waffen vergiftet. Wenn man unsere Kriegsgeschichte untersucht, dann sieht man, dass die faschistische türkische Armee bereits in früheren Jahren am Cûdî, in Amed, in Geliyê Teyarê und vielen weiteren Orten chemisches Gas eingesetzt hat. Bei dem jüngsten Besatzungsangriff wurde sie jedoch durch den Widerstand in die Ecke gedrängt und hat aus Hilflosigkeit etliche Male Chemiewaffen benutzt. Dieser ungezügelte Faschismus ist in den Kriegstunneln von Werxelê besiegt worden. Er hat auch in Zendura und am Girê Sor eine Niederlage erlitten. Er hat ein weiteres Mal die Unbesiegbarkeit des apoistischen Geistes der Opferbereitschaft gesehen.
Guerillaoffensiven mit schlagkräftiger Performance
Die von unseren Kräften eingeleiteten revolutionären Offensiven werden im Gebiet zwischen Zap, Avaşîn, Gever und Xakurke als Bazên Zagrosê (Falken des Zagros) und in Metîna und Heftanîn als Cenga Xabûrê (Kampf am Habur) bezeichnet. Dabei geht es nicht nur um Selbstverteidigung, sie werden mit offensiven und effektiven Aktionen und einer schlagkräftigen Performance durchgeführt. Zuletzt haben im November und Dezember mit der neuzeitlichen Guerillataktik Aktionen in Heftanîn, Zap und Serhed stattgefunden, die ein Schock für den Feind waren. Im Verlauf des Jahres ist das feindliche Vernichtungskonzept zwar nicht vollständig ausgehebelt worden, zeitweilige und tagesaktuelle politische Vorhaben und Taktiken konnten jedoch abgewehrt werden.
Die geplante Eliminierung in Nordkurdistan ist gescheitert
Die größte strategische Bedeutung innerhalb dieses Konzepts sind unsere Gebiete im Norden. Die dort unter dem Namen Eren durchgeführten Operation haben Kontinuität gewonnen. Aufgrund der jahreszeitlichen Bedingungen haben wir zwar keinen ausreichenden Kontakt zu unseren dortigen Kräften, dennoch sind diese auf die Eliminierung der Guerilla abzielenden Operationen abgesehen von dem Gebiet Dersim gescheitert. Auch aus Dersim wird in den Medien über den Einsatz von chemischen Waffen berichtet.
Rojava und Şengal
In unserem Land sind Rojava und Şengal Gebiete, in denen der größte Widerstand unseres Volkes und seiner Verteidigungskräfte geleistet wurde und im Kampf gegen den IS die Werte der Revolution zum Vorschein gekommen sind. Um die auf einen Völkermord abzielende Politik zu vervollständigen, wurden Freundinnen und Freunde angegriffen, die wie Sosin Efrîn, Rênas Rojhilat, Sêid Yusif, Apê Yusif und Merwan Bedel nicht von der Linie eines freien Lebens abgewichen sind und eine grundsätzliche Haltung dagegen eingenommen haben, dass sich der Liberalismus bei uns einschleicht.
Weil die faschistische AKP/MHP-Regierung ihre Niederlage mit militärischen Siegen verschleiern will, sind derartige Angriffe auf unsere Führungskader und unser Volk auch in der kommenden Zeit möglich. Bei diesem Thema muss man vorsichtig und wach sein. Unser Volk muss die Notwendigkeit erkennen, den Krieg in die Realität eines kämpfenden Volkes zu verwandeln. Es muss seine Selbstverteidigung organisieren und verbreitern.
Nächster Teil: Der Kampf gegen den Feminizid und die Bedeutung der Guerilla