Die Berge waren sein Kompass: Nachruf auf Rıza Altun

Rıza Altun (1954–2019) war Mitbegründer der apoistischen Kultur, Revolutionär, Diplomat, Gefangener, Kämpfer. Vom Rand der Gesellschaft bis in die Berge Kurdistans – sein Leben war Widerstand und Idee zugleich.

Revolutionär der ersten Stunde

Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat heute ihre Auflösung und das Ende des bewaffneten Kampfes verkündet – und den Tod von Rıza Altun bekannt gegeben. Der langjährige Weggefährte Abdullah Öcalans und Kader der ersten Stunde kam am 25. September 2019 in den Medya-Verteidigungsgebieten ums Leben. In einem Nachruf der PKK heißt es:

Rıza Altuns Weg begann mit einer erzwungenen Flucht und wurde später zu einer bewussten Entscheidung: ein nomadisches Leben, dessen letzter Halt – die Berge Kurdistans – für ihn der Inbegriff des sinnvollen Lebens wurden. Er wurde 1954 im Dorf Küçüksöbeçimen in Sarız bei Kayseri geboren. Die 60-Haushalte zählende Siedlung war gegründet worden von Zazakî sprechenden Alevit:innen, die nach dem osmanischen Gesetz Fırka-i Islahiye aus Dersim vertrieben worden waren. Die Dorfgemeinschaft war weitgehend abgeschottet und lebte in Konflikten mit benachbarten Avşar-Türk:innen.


Kindheit zwischen Identität und Ausgrenzung

Als sein Vater wegen wirtschaftlicher Not nach Ankara zog, ließ sich die Familie im Viertel Tuzluçayır nieder. Dort begegnete die Familie erneut Marginalisierung: Ethnisch und religiös als „anders“ wahrgenommen, waren Diskriminierung und Abgrenzung ständige Begleiter. Diese Erfahrungen führten bei Altun früh zu einem Bewusstsein über Ungerechtigkeit und eine starke Neigung zu rebellischem Denken.

Der Weg in die Revolution: Begegnung mit Kemal Pir

Rıza Altun schloss die Grundschule ab, verfolgte aber keine schulische Laufbahn weiter. Stattdessen arbeitete er in Gelegenheitsjobs und stieß 1974 auf die revolutionäre Bewegung. In Tuzluçayır waren THKO-nahe Gruppen aktiv, die unter Jugendlichen große Wirkung entfalteten.

Ein entscheidender Wendepunkt war die Begegnung mit Kemal Pir. Altun wurde Teil eines engen Zirkels, besuchte regelmäßig Pirs Wohnung, lernte dort Haki Karer kennen. In beiden sah er Verkörperungen des gelebten Internationalismus und des revolutionären Geistes, der sich nicht in Worten, sondern in der gelebten Praxis ausdrückte. „Es war die richtige Lebensweise, vermittelt von den richtigen Menschen“, sagte Altun später. Diese Begegnungen prägten seine Sicht auf die Revolution: als ganzheitlichen, ethischen und ästhetischen Lebensentwurf.

So wurde Rıza Altun zu einer der ersten Personen, die dem Kreis um Abdullah Öcalan, der Anıttepe-Kerngruppe beitraten. In den Häusern von Anıttepe begannen die Treffen mit intensiven Diskussionen, die sein Leben dauerhaft prägten – über Kolonialismus, Kurdistans Geschichte, Sozialismus und bewaffneten Widerstand. Altun, bekannt für seine rebellische Energie, wurde nicht nur Teilnehmer, sondern Aktivist. Viele seiner Freunde aus der Nachbarschaft folgten ihm in die Bewegung.

Rückkehr nach Kurdistan

1977 wurde Rıza Altun Teil der „Rückkehr nach Kurdistan“-Phase. Er wirkte zunächst in Dîlok (Gaziantep), wo er mit Kemal Pir, Haki Karer und Mustafa Karasu zusammenarbeitete. In dieser Phase vor der Parteigründung leistete er Pionierarbeit, war aktiv in der Organisierung von Arbeiter:innen, insbesondere in der Seifenindustrie von Nizip.

Der Mord an Haki Karer wurde für die Bewegung ein Wendepunkt – und für Altun ein tiefer persönlicher Einschnitt. Er verlegte seine Arbeit nach Xarpêt (Elazığ), wo er gemeinsam mit Cemil Bayık aktiv war. Bei einem Verkehrsunfall in der Nähe Amed (Diyarbakır) erlitt er schwere Verletzungen, arbeitete jedoch nach seiner Genesung sofort weiter.

Es folgten Stationen in Riha (Urfa), wo er mit Mehmet Karasungur tätig war. Er wurde Teil des militärischen Aufbaus, insbesondere in Riha (Urfa), und war eine der führenden Figuren im Kampf gegen sektiererische Gruppen. Die apoistische Bewegung gewann in diesen Jahren zunehmend an Boden.

Gefängnisjahre: Amed als Ort des Widerstands

1979 wurde Altun in Riha verhaftet und in das berüchtigte E-Typ-Gefängnis von Diyarbakır gebracht. Dort wurde er zu einer Symbolfigur des Gefängniswiderstands gegen die Militärdiktatur und gegen die grausamen Bedingungen, denen politische Gefangene ausgesetzt waren. Doch Rıza Altun ließ sich nicht brechen. Er kämpfte mit Mut, Witz und ungebrochener Entschlossenheit darum, seinen Mitgefangenen Würde, Hoffnung und seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Sein Kampf galt der Verteidigung des menschlichen und politischen Selbst unter den Bedingungen systematischer Zerstörung.

Rückkehr zur Bewegung und diplomatische Phase

Seine eigene Entlassung 1991 kam so unerwartet, dass er sie zunächst für einen Scherz hielt. Doch der Ernst des Moments wurde ihm klar, als seine Mitgefangenen in Tränen ausbrachen. 1992 kam Rıza Altun nach seiner Freilassung an die Parteischule zu Abdullah Öcalan in Syrien. Er wurde Teil des innersten Kreises, begleitete diplomatische Gespräche mit syrischen Vertretern, der PDK, YNK und weiteren Akteuren im Namen der Bewegung, bereitete Waffenstillstände und politische Initiativen mit vor. Er war einer der wichtigsten politischen Köpfe der neuen organisatorischen Phase der PKK.

„Freiheit hat einen Ort: die Berge“

In der Folgezeit war Altun diplomatisch vorrangig für den Osten Kurdistans und den Nahen Osten aktiv. Die PKK sah er als politische, soziale und ethische Bewegung. Und die Berge waren für ihn nicht nur Symbol, sondern Notwendigkeit, sie wurden zum Ort höchster Selbstverwirklichung:

„Die Berge geben uns die Möglichkeit, wahrhaft frei zu sein. Sie sind nicht nur Rückzugsort, sie sind Voraussetzung für unseren Freiheitskampf. Für viele von uns wurden sie zu einem unverzichtbaren Lebensraum – zu einem Lebensstil.“

Europa, Gesellschaft und Bildung

2001 wechselte Altun in die Arbeit in Europa. Mit analytischer Schärfe und rhetorischer Präsenz vermittelte er die Ideen der Bewegung in kurdischen Gemeinden Europas. Er wurde zum Bindeglied zwischen Exil, Jugend, Frauenbewegung und Kadern.

Ein Leben, das bleibt

2007 kehrte Altun erneut in die Berge zurück. Er wirkte bis zuletzt im Bereich der Bildung und Diplomatie. Am 25. September 2019 fiel Rıza Altun. Sein Leben, das mit der Entwurzelung begann, endete dort, wo es für ihn am meisten Bedeutung trug – in den Bergen Kurdistans. Was er in Worten, Taten, Begegnungen und Ideen hinterließ, bleibt. In den Herzen, im Bewusstsein, im Widerstand. Der Ort ist wechselhaft – doch das Ziel ist das gleiche.