Cihan Xidro ist Vorsitzende des Frauenrats in der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien und hat sich gegenüber ANF zur Situation von Frauen in der Region geäußert. Nach ihren Angaben ist das autonome System unter der Führung von Frauen entstanden und Frauen sind in allen militärischen, politischen, gesellschaftlichen und administrativen Einrichtungen in führender Position aktiv. „Eigentlich hat sich Nordostsyrien basierend auf dem Modell einer demokratischen Nation als Frauenprojekt entwickelt. Gerade aufgrund dieser Besonderheit ist es immer ein Angriffsziel gewesen“, so Cihan Xidro.
Das gelte insbesondere für die von der Türkei gesteuerten Angriffe von Islamisten wie der Al-Nusra-Front und dem IS. „Es ist der Willen von Frauen, der angegriffen wird. Über die Angriffe auf Frauen in führenden Positionen soll der Willen der Gesellschaft gebrochen werden. Deshalb sind Frauen immer die ersten, die ins Visier genommen werden. Diese Mentalität soll auch in der Gesellschaft verbreitet werden. Der türkische Staat nutzt dafür salafistische Gruppen und wird in den von ihm besetzten Gebieten auch selbst aktiv. In den von ihm eingerichteten Institutionen und auch innerhalb der Gesellschaft werden verschiedene Mittel der psychologischen Kriegsführung angewandt.“
Der türkische Staat sei maßgeblich daran beteiligt, dass aus dem revolutionären Aufbruch in Syrien eine langjährige Krise und Chaos entstanden seien, führt Cihan Xidro weiter aus: „Er hat zunächst über die islamistischen Gruppen und später direkt selbst interveniert. 2016 hat er zuerst Dscharablus besetzt und im weiteren Verlauf al-Bab, Azaz, Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê. In den Besatzungszonen hat er als erstes die Kultur, die Ethik und die demografische Struktur verändert. Vor allem Frauen sind in diesen Gebieten von Gewalt und Verschleppungen betroffen. Frauen sind vergewaltigt, ermordet und verschleppt worden. Dutzende entführte Frauen werden immer noch vermisst, es gibt keinen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Leider schweigt die Welt zu dem unmenschlichen Vorgehen des türkischen Staates. Es wird einfach nur zugeschaut. Kein Staat und keine internationale Einrichtung hat eine ernsthafte Reaktion gezeigt.“
Cihan Xidro beobachtet seit Anfang des Jahres eine Zunahme von Gewalt gegen Frauen in Nordostsyrien. Sie verweist auf die Morde an zwei Mädchen in Hesekê durch Familienmitglieder und betont, dass die Täter und alle Beteiligten vor Gericht gestellt werden. „Es gibt bestimmte Umstände in unserer Region, die Gewalt an Frauen begünstigen. Zum einen wird die Region kontinuierlich vom türkischen Staat und seinen Banden angegriffen. Sie wird ständig bombardiert. Ein Teil der Bevölkerung ist vertrieben worden und lebt jetzt in Auffanglagern. Das führt zu einem psychischen Stresszustand. Darüber hinaus hat der IS seine Denkweise in der Region verbreitet. Er ist inzwischen militärisch geschlagen, aber Teile der Gesellschaft sind immer noch von ihm beeinflusst. Obwohl wir dagegen ankämpfen, kommt es immer noch gelegentlich zu Vorfällen wie in Hesekê. Außerdem hat die Pandemie einen Teil beigetragen. Die Menschen mussten lange Zeit in ihren Wohnungen bleiben, damit einhergehend sind innerfamiliäre Probleme aufgetreten.“
Um Gewalt an Frauen zu verhindern, verfolgt der Frauenrat verschiedene Projekte. Momentan ist das wichtigste Projekt die Umsetzung der 2014 eingeführten Frauengesetze. Mit diesem Gesetz soll Geschlechtergleichberechtigung in allen Lebensbereichen hergestellt werden. Hierzu gehört auch das Verbot von Formen sexistischer Gewalt, die jahrhundertelang durch islamisches Gewohnheitsrecht legitimiert wurden, wie beispielsweise das Verheiraten von minderjährigen Frauen und Mädchen, gegen den Willen von Frauen arrangierte Ehen, polygame Ehen von Männern, das einseitige Scheidungsrecht der Männer, die Ungleichbehandlung von Frauen bei der Verteilung des Familienerbes oder bei Zeugenaussagen vor Gericht. Täter von sogenannten „Ehrenmorden“ bekommen keine „straferleichternden Umstände“ mehr zuerkannt – wie es im syrischen Strafrecht der Fall ist –, sondern werden als Schuldige entsprechend der normalen Gesetzgebung für Morde bestraft. „Brautgeld“ ist abgeschafft worden, da es bedeutet, Frauen zur Ware zu machen. Bei Gerichtsverfahren, die die privaten Rechte von Frauen und das Familienrecht betreffen, muss eine Vertreterin von Fraueneinrichtungen in beratender Funktion anwesend sein.
Wie Cihan Xidro erklärt, will der Frauenrat die Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft zu diesem Thema fördern. Dafür soll es Bildungsangebote geben, die sich an Frauen, Familien und Männer richten. „Die Frauengesetze sollen in der gesamten Gesellschaft begriffen und umgesetzt werden. Mit der Bildungsarbeit wollen wir das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit für dieses Thema in der Gesellschaft verbessern“, so Cihan Xidro als Vorsitzende des Frauenrats von Nord- und Ostsyrien.