Cenî: Ein Angriff auf die Selbstorganisierung von Frauen

Das Frauenbüro Cenî sieht in Absetzung der Bürgermeister*innen in drei kurdischen Provinzhauptstädten einen direkten Angriff auf das von der HDP praktizierte System der Doppelspitze und organisierte Frauenstrukturen.

Das in Düsseldorf ansässige „Frauenbüro für Frieden – Cenî“ hat sich in einer schriftlichen Erklärung zur Absetzung dreier kurdischer Bürgermeister*innen durch das türkische Innenministerium geäußert:

In der Nacht auf den 19. August 2019 wurden die in der Kommunalwahl vom 31. März gewählte Ko-Bürgermeisterin von Wan, Bedia Özgökçe Ertan, sowie die Ko-Bürgermeister von Amed und Mêrdîn Adnan Selçuk Mızraklı und Ahmet Türk, ihres Amtes enthoben. An ihrer Stelle wurden vom Staatspräsidenten bestimmte Treuhänder eingesetzt. Den Ko-Bürgermeister*innen wird in mehreren Ermittlungsverfahren „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation” und „Terrorpropaganda” vorgeworfen. Auch das von der HDP in all ihren Strukturen praktizierte Prinzip des Ko-Vorsitzes ist Teil der Vorwürfe: Es sei auf Geheiß der PKK eingeführt worden. Im Zuge der Operation wurden im Laufe des Tages 418 HDP-Mitglieder festgenommen. Die Rathäuser wurden von einem massiven Polizeiaufgebot umstellt und das Demonstrationsrecht aufgehoben. Die dennoch lauthals Protestierenden wurden mit Wasserwerfern angegriffen. Ungeachtet dessen dauerten die Proteste bis in die Nacht an und werden heute fortgesetzt.

Zwangsverwaltung als Angriff auf organisierte Frauenstrukturen

Die HDP bezeichnet die Geschehnisse als „politischen Putsch“ und als Fortführung der Politik nach dem Putschversuch 2016, in dessen Zuge hunderttausende Festnahmen und Entlassungen stattfanden und 96 der gewählten Kommunalverwaltungen durch Zwangsverwalter ersetzt wurden.

Damals waren auch alle Frauenorganisationen und -zentren verboten worden. An die Stelle der Repräsentation der Frauen auf allen Ebenen der politischen Ämter durch das Prinzip des Ko-Vorsitzes trat eine vom Staatspräsidenten eingesetzte Herrschaft des Zwangsverwalters. Er plünderte das zum großen Teil durch die Anstrengungen von Frauen erwirtschaftete Vermögen der Kommune und verhinderte jegliche Selbstorganisierung von Frauen. Aufgrund dieser Politik verschlechterte sich die Situation von Frauen innerhalb kürzester Zeit dramatisch. Frauenmorde, Vergewaltigungen, Kinderehen, Prostitution nahmen massiv zu. Mit den Kommunalwahlen und der Rückgewinnung der Stadtverwaltungen in den kurdischen Gebieten begannen die Frauen in den Kommunen gerade wieder sich zu organisieren und eine aktive Rolle im Stadtgeschehen zu übernehmen. Sie führten beispielsweise viele Aktionen gegen Frauenmorde durch, organisierten einen Autokorso zur Sichtbarkeit von Frauen im Verkehr, veranstalteten Seminare zu Geschlechtergerechtigkeit und den Rollen von Frauen in der Gesellschaft, gründeten Frauen-Kooperativen. So begannen sie wieder, in allen Bereichen der Gesellschaft aktiver und gestaltender Teil zu werden und damit eine Grundlage für die Demokratisierung der Gesellschaft und einen würdevollen Frieden zu legen.

Der Angriff auf die Organisierung von Frauen, die demokratisch gewählten Stadtverwaltungen und die HDP als politische Stimme der kurdischen Gesellschaft zeigt einmal mehr, dass das faschistische AKP/MHP-Regime und seine Verbündeten alles daran setzen, jegliche politische und gesellschaftliche Organisierung der Gesellschaft auszumerzen und sie in den bewaffneten Kampf zu drängen. Mit ihrer von NATO-Verbündeten wie Deutschland hochgerüsteten Armee erhoffen sie sich mehr Erfolg als mit ihrer von Unfähigkeit gezeichneten Politik.

Patriarchale Gewalt betrifft uns alle

Gegen diesen politischen Vernichtungsfeldzug sollten alle demokratischen Kräfte bzw. diejenigen, die das Wort Demokratie im Munde führen, Haltung zeigen. Das Handeln der AKP/MHP führt dazu, dass der Krieg vertieft wird und politische Lösungen unvorstellbar werden. Auf die Friedensaufrufe von Abdullah Öcalan antwortet der AKP/MHP-Faschismus mit Krieg auf allen Ebenen. Wir rufen deshalb die Bundesregierung dazu auf, spätestens jetzt alle Unterstützung des AKP/MHP-Faschismus zu kappen – die Waffendeals, die Wirtschaftsunterstützung und die Milliarden für den sogenannten Flüchtlingsdeal. Wir rufen alle demokratischen, feministischen, friedensliebenden Kräfte auf, den Kampf gegen das faschistische und frauenfeindliche AKP/MHP-Regime zu unterstützen und die Verwicklung der Bundesregierung öffentlich zu machen! Wir rufen dazu auf, sich den Protesten der kurdischen Bevölkerung anzuschließen und Solidarität praktisch werden zu lassen. Wir rufen alle Frauen und unterdrückten Geschlechter dazu auf, sich zu organisieren, nicht länger zu warten und aufzustehen für Freiheit und Veränderung!

Patriarchale Gewalt hat System und betrifft uns alle. Es lebe die Selbstorganisierung von Frauen!