Das Netzwerk gegen Feminizide „Wir wollen uns lebend” hat in Berlin einen Widerstandsplatz gegen patriarchale Gewalt ausgerufen. Über 200 Menschen sind dem Aufruf am vergangenen Freitag nachgekommen und haben sich trotz Pandemie auf dem sogenannten „Nettelbeckplatz” versammelt, um ein Zeichen gegen männliche Gewalt zu setzten.
Der Nettelbeckplatz im Wedding ist dabei keine zufällige Wahl. Gerade diesen Platz zu besetzen, ist ein bewusster Akt des Widerstands. Der Namensgeber Joachim Nettelbeck war Kapitän von Schiffen, auf denen tausende Menschen versklavt, verschleppt und ermordet wurden. Nach Nettelbeck sind mehrere Straßen und Plätze in Deutschland benannt - als wäre er ein ehrenvoller Mensch, der ein Gedenken verdient. Dabei war Nettelbeck ein rassistischer Vebrecher. Ihn als Namensgeber für Plätze zu benutzen, zeigt erneut die Ignoranz, das Verdrängen und Nicht-Erzählen der gewaltvollen und tödlichen deutschen Kolonialgeschichte. „Wir wollen uns lebend” fordert deshalb eine bewusste Umbennenung des Platzes. Das feministische Netzwerk möchte den Ort zu einer Stätte des Widerstands gegen das rassistische Patriarchat und damit zu einem Raum des widerständigen Erinnerns machen.
© Kampagne „Gemeinsam Kämpfen”
Internationalistsich, antirassistisch, antikolonial
„Wir wollen uns lebend” ist ein Netzwerk von kollektiven und selbstorganisierten Gruppen feministischer Bewegungen in Berlin. „Unser Ansatz ist internationalistsich, antirassistisch, antikolonial und klassenkämpferisch gegen das Patriarchat”, erläutert das Netzwerk in seinem Selbstverständnis. „Unsere Herkunft und Identitäten mögen unterschiedlich sein, aber uns vereint das gemeinsame Streben nach einer Gesellschaft, die sich am Gemeinwohl statt an Profiten orientiert.” Die feministische Initiative will den Fokus darauf setzen, Feminizide als strukturelles Problem in der Bundesrepublik sichtbar zu machen. Damit will es auch der kolonialen Erzählung, die patriarchale Gefahr käme von einem imaginierten „Fremden”, etwas entgegensetzen. Denn Gewalt gegen Frauen, Trans, Inter, nicht- binäre Personen und Mädchen ist unhinterfragt ein globales Problem. Überall auf der Welt sterben Menschen als Folge patriarchaler Unterdrückung. Deshalb ist es umso wichtiger, internationalistisch dagegen zu kämpfen.
Jeden Tag 130 Feminizide
Jeden Tag werden im Schnitt über 130 Frauen weltweit umgebracht, das sind jede Stunde mehrere Frauen. Tausende Frauen werden täglich vergewaltigt, misshandelt und erniedrigt. Zu Morden an Trans-, Inter- und nicht-binären Personen gibt es keine gesonderten Statistiken. Auch sie werden täglich angegriffen, unterdrückt und ermordet. Nur sehr selten gibt es eine Berichterstattung, die diese Geschlechtsidentitäten anerkennend sichtbar macht.
Im Jahr 2019 wurden in Deutschland nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) 301 Frauen von ihren Partnern oder Expartnern getötet. Versuchte Morde sind täglich zu verzeichnen. Wir können davon ausgehen, dass die Dunkelziffer um einiges höher liegt, da es sich bei diesen Werten lediglich um die Morde von Partnern und Expartnern handelt, nicht aber um eine gesamte Statistik, die alle Morde an Frauen sammelt. Andere Gender, die auch von Feminiziden und dem patriarchalen Bestrafungssystem betroffen sind, tauchen in den Listen gar nicht erst auf. Offizielle Statistiken, um diese Morde zu dokumentieren, existieren in Deutschland nicht. Dabei könnte so sichtbar gemacht werden, um welches Mordmotiv es sich handelt. Schließlich haben diese Morde System und finden ihre Wurzeln in der jahrtausendalten Geschichte patriarchaler Unterdrückung.
Jedes Nein wird bestraft
Es sind Morde, die an Personen aufgrund ihres (vermeintlich) weiblichen Geschlechts begangen werden, sogenannte Feminizide. Morde an Frauen, Trans-, Inter- und nicht- binären Personen sind das Produkt einer misogynen Gesellschaft, in der ihnen verwehrt wird, den Platz einzunehmen, der ihnen zusteht. Diese Gewalt ist eine Form der Grenzziehungen des Patriarchats. Sie hat die Funktion, die Körper und Psyche von Frauen, Trans-, Inter- und nicht- binären Personen in gesellschaftlichen Positionen zu fixieren, in denen sie maximal ausgebeutet werden können. Dadurch soll die Vorherrschaft des Mannes abgesichert werden. Jeder Widerstand, jedes Aufbegehren, jedes Nein, jedes Einstehen für Selbstbestimmung wird deshalb bestraft. Jeder Aufschrei wird versucht, gewaltvoll zum Schweigen zu bringen.
Staatliche Mitschuld benennen und Forderungen stellen
Jedoch zeigen uns die Bewegungen der letzten Jahre weltweit, dass wir uns in einer Phase befinden, in der genau diese Strategie zum Scheitern verurteilt ist. Überall auf der Welt können wir sehen, dass an der Spitze von emanzipatorischen Kämpfen für soziale Gerechtigkeit feministische Bewegungen stehen. Die kurdische Frauenbewegung ist ein zentraler Teil davon. Mit ihrer neuen Kampagne „100 Gründe, um den Diktator zu verurteilen” kämpft sie gegen die femizidale Politik der Türkei und fordert die Gesellschaft auf, sich gegen Feminizide zu verteidigen. Eine weitere Forderung ist die internationale Anerkennnung von Feminiziden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch das Netzwerk „Wir wollen uns lebend” ist eine Stimme unter all den wütenden Stimmen von Frauen, Trans und Inter, die sich täglich organisieren und auf die Straße gehen, wenn ein Feminizid passiert. Sie stellen sich gegen ein System, das einen großen Teil der Menscheit aufgrund ihrer Geschlechtsidentität oder ihrer Herkunft Gewalt aussetzt.
All das sind Stimmen, die sich nicht davor scheuen, staatliche Mitschuld zu benennen, Forderungen stellen und aufzeigen, dass eine freie Gesellschaft möglich ist.