„Aufgeben ist keine Option“

Maria Edgarda Marcucci hat in Rojava gegen den IS gekämpft und Efrîn verteidigt. In Italien wurde sie als „soziale Gefährderin“ eingestuft – weil sie sich laut Gericht den „Kampf gegen das kapitalistische System zur Lebensgrundlage“ gemacht habe.

Die Turiner Internationalistin Maria Edgarda Marcucci hielt sich fast ein Jahr lang in Rojava auf, wo sie als Freiwillige in den Reihen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) sowohl gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) kämpfte als auch am Widerstand von Efrîn teilnahm. Nach ihrer Rückkehr im Juni 2018 reiste Marcucci, die auch Eddi genannt wird, durch ganz Italien und hielt Vorträge über ihre Erfahrungen in Rojava, dem „emanzipatorischen Leuchtturm“, in dem die Befreiung der Frau im Mittelpunkt steht. Im März wurde die 29-Jährige deshalb als „soziale Gefährderin“ eingestuft und unter Aufsicht gestellt. Die von der Turiner Staatsanwaltschaft durchgesetzte Sonderüberwachung „Sorveglianza speciale“ – als Präventivmaßnahme, um sie von möglichen bevorstehenden Straftaten abzuhalten – wird damit begründet, dass sich Eddi „den Kampf gegen das kapitalistische System zur Lebensgrundlage gemacht“ haben soll.

Die Strafe besteht aus einem drastischen Entzug der Freiheitsrechte Marcuccis: Zwei Jahre lang darf sie Turin nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Polizei verlassen. Sie steht unter Hausarrest, was bedeutet, dass sie ihre Wohnung zwischen 21 Uhr abends und 7 Uhr morgens nicht verlassen darf. Sie darf an keinen Veranstaltungen, Demonstrationen oder Protesten teilnehmen und sich niemals mit mehr als drei Personen gleichzeitig treffen. An öffentlichen Plätzen, in Restaurants oder Bars darf sie sich nicht aufhalten, ihre Fahrerlaubnis wurde widerrufen. Kontakt zu vorbestraften Personen ist verboten, außerdem darf sie sich nicht politisch äußern. Auch ihr Reisepass wurde eingezogen. Zudem muss sie jederzeit ein rotes Notizbuch bei sich tragen, in das Angehörige der Sicherheitskräfte jederzeit aufschreiben können und sollen, was sie gerade macht, mit wem und wo sie sich aufhält.

Mittlerweile ein halbes Jahr verbringt Marcucci ihre Zeit in einem Gefängnis unter freiem Himmel, wie sie selbst sagt. Gegen das Urteil will sie im Herbst Berufung einlegen. Im Gespräch mit Rewşan Deniz von der Tageszeitung Yeni Özgür Politika hat Eddi über ihre Erfahrungen in Rojava und die Anwendung dieser Präventivmaßnahme, die noch aus der faschistischen Gesetzgebung Italiens stammt, gesprochen.

Kann das Urteil gegen dich ein Präzedenzfall in Italien werden?

Mit Blick auf die Lage der Justiz und insbesondere auf diesen Prozess lautet meine Antwort ganz klar ja. Diese Maßnahme unterscheidet sich von anderen, da für die Anordnung keine Straftat vorliegen muss. Es ist ein politisches Urteil, das einen gefährlichen Präzedenzfall für den Internationalismus in Italien und vermutlich auch im restlichen Europa schaffen kann. Man will jegliche Verbindung zwischen Europa und Kurdistan unterbinden, die Verbreitung der Ideen von Serokatî (gemeint ist Abdullah Öcalan, Anm. d. Red.) verhindern und die Erfahrung der Möglichkeit, nach gesellschaftlichen Werten zu leben, verleugnen. In Italien geschieht das zwar zum ersten Mal, aber Internationalist*innen in anderen europäischen Staaten waren ebenfalls schon mit Vorwürfen konfrontiert, die die Grenze der Vorstellungskraft sprengen und frei erfunden sind. Zuletzt wurde in England sogar der Vater eines ehemaligen YPG-Freiwilligen von der Justiz verfolgt.

Aber um auf den italienischen Staat zurückzukommen, sollten wir den Terrorismusvorwurf gegen unsere Freunde in Sardinien nicht vergessen. Einer von ihnen war noch nicht mal in Rojava. Da stellt sich doch die Frage, auf welchem Grund der Vorwurf gegen ihn erhoben wurde. Weil er seit vielen Jahren in der Kurdistan-Solidarität und anderen lokalen Bewegungen aktiv ist. Es war der offensichtliche Versuch, Grundlagen für die Kriminalisierung des Internationalismus zu schaffen.

Wie reagierten die Zivilgesellschaft und Menschenrechtler auf das Urteil gegen dich?

Die Gesellschaft ist voller Widersprüche, für viele Menschen war dieser Prozess in vielerlei Hinsicht sicher ein ganz klarer Knackpunkt. Einerseits behauptete der italienische Staat beim Kampf gegen den IS, Teil der internationalen Koalition zu sein. Aber wenn wir die Fakten analysieren stellen wir fest, dass der Beitrag im Anti-IS-Kampf und die Position Italiens im Hinblick auf den Dialog mit der nordostsyrischen Autonomieverwaltung und ihrer Anerkennung vollkommen den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Türkei untergeordnet sind. Diese Tatsache wurde auch nochmal bei der letzten türkischen Invasion in der Region deutlich: Der italienische Außenminister Luigi Di Maio gab bekannt, Italien habe die Angriffe verurteilt und forderte das Ende der Waffenlieferungen an die Türkei. Aber ob praktische Schritte in diese Richtung unternommen wurden, wissen wir nicht, da entsprechende Dokumente als Verschlusssache gelten. Diese Entscheidung sagt viel darüber aus, wie wenig wir dem Staat trauen dürfen.

Eddi bei einem Vortrag in Rom | © Matteo Nardone

Eine friedliche Protestaktion gegen eine Luftfahrt-Konferenz zur Förderung des Waffenhandels zwischen Italien und der Türkei hat das Turiner Gericht dazu bewegt, die Sonderüberwachung gegen mich anzuordnen. Das Urteil folgte nur drei Wochen nach der Erklärung von Di Maio. Die Öffentlichkeit konnte wahrnehmen, wie weit offizielle Statements von der Realität entfernt sind. Das ist ein alltägliches Phänomen, das uns als Gesellschaft in jedem Aspekt des Lebens umgibt. Während der Corona-Pandemie wurde das auf äußerst schmerzvolle Weise nochmal deutlich. Auch wenn innen- und außenpolitische Zusammenhänge auf den ersten Blick nicht sofort zu erkennen sind, so ist es doch ganz offensichtlich, dass man der Regierung nicht trauen kann. Für gewöhnlich ist es lediglich ein Haufen Lügen, den diese Leute von sich geben. Ein weiterer Aspekt in dieser Sache betrifft die Lage der Justiz. Was bleibt übrig von demokratischen Kriterien, wenn ein Mensch verurteilt werden kann, ohne eine Straftat begangen zu haben? Das ist eine Frage, die sich fast jede Person stellt. Vor allem diejenigen, die noch ein gewisses Maß an Vertrauen in eine unabhängige Justiz haben.

Wie hat sich diese Entscheidung auf dein Leben ausgewirkt? Wurde deine internationalistische Solidaritätsarbeit mit Rojava beeinflusst? Musstest du aufgegeben oder warst du in der Lage, alternative Wege zu finden?

Diese Entscheidung hat mein Leben sehr verändert. Ich hatte die Ehre, Zeit mit sehr vielen wertvollen Freund*innen zu verbringen, und die Großzügigkeit, die sie mir entgegenbrachten, ist unermesslich.

Manche Leute glauben, Internationalist*innen seien Helfer*innen. Das bringt mich zum Schmunzeln, denn für mich ist es genau umgekehrt. Natürlich haben wir versucht, alles zu geben, was wir konnten, aber an einer so großen und wichtigen Bewegung beteiligt zu sein, hat uns geholfen! Für mich selbst kann ich sagen, dass die Zeit in Rojava meine Herangehensweise an so viele Fragen und Aspekte des Lebens vollkommen verändert hat. Teil dieser Bewegung zu sein hat mich in die Lage versetzt, die inneren Zusammenhänge besser zu verstehen und das dadurch gewonnene Verständnis mit all den Menschen, denen ich begegne, zu teilen und es gemeinsam zu vertiefen. Wir alle, die wir in Rojava waren, aber selbstverständlich auch viele andere Menschen, fühlen uns den Freund*innen verbunden. Daher ist Aufgeben keine Option. Es wäre der Verrat an dem gemeinsamen Traum. Wir haben eine Verantwortung, und wir müssen sie erfüllen, ganz gleich, was passiert.

Dank Internationalist*innen wie Hêlîn Qereçox (Anna Campbell) oder Tekoşer Piling (Lorenzo Orsetti) begannen viele Menschen, die Bücher von Heval Sara (Sakine Cansız) und die Philosophie von Serokatî zu lesen. Sie fanden Mittel, ihre eigenen Kämpfe zu stärken – ich ebenfalls. Trotz dieser Einschränkungen ist es mir möglich, auf vielfältige Weise zu diesem kollektiven Prozess beizutragen.

Wenn ich mich nicht irre, warst du ein Jahr lang in Rojava und hast Widerstand gegen den IS und die Türkei geleistet. Was bedeutet dir der gemeinsame Kampf?

Das stimmt, ich war etwa ein Jahr dort und kann mit Stolz sagen, am Widerstand von Efrîn teilgenommen zu haben. Es war unglaublich, wie die Gesellschaft als Ganzes der Invasion standhielt. Es fällt mir schwer, einen Aspekt herauszugreifen, weil es so viel zu sagen gibt, aber ich glaube, dass die Worte von Şehîd Hêlîn zusammenfassen, um was es ging: „Wenn deine Liebe zu deinem eigenen Volk so groß ist, dass du bereit bist, zu kämpfen und zu sterben - und das musst du ohnehin, wenn du ein Revolutionär sein willst - dann wirst du auch andere Völker genug lieben, um für sie zu kämpfen und zu sterben“. Ich denke, Heval Hêlîns Leben ist ein leuchtendes Beispiel dafür. Sie lebte jeden Tag ihres Lebens nach ihren Idealen. Wir sind alle miteinander verbunden, und es spielt keine Rolle, wo der Kampf stattfindet. Wir müssen uns ihm anschließen, um Freiheit für alle zu erreichen. Es gibt keine individuelle Freiheit. Sie muss für alle Gemeinschaften in der Welt gelten.

Eddi in Rojava | © privat

Jeder Angriff auf den demokratischen Konföderalismus ist ein Angriff auf die globale Gesellschaft. Überall auf der Welt stehen wir dem gleichen Feind gegenüber und sehen uns mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Ganz oben auf der Liste stehen die Befreiung der Frau, die ökologischen, natürlichen und kulturellen Ressourcen, und die Demokratie, die es gemeinsam zu verteidigen gilt. Die jüngsten Bewegungen überall auf der Welt haben uns gezeigt, dass die neuen Generationen ein klares Verständnis der Welt als Ganzes haben, dass die Globalisierung für sie eine Tatsache ist und dass sie darum kämpfen, eine gemeinsame Kraft für eine andere Welt aufbauen wollen. Wie unsere Freund*innen es uns lehrten: Berxwedan jiyane!

Inwiefern hat die Erfahrung der internationalistischen Solidarität in Rojava dich verändert? Welche Kraft hast du daraus für dein persönliches Leben und deinen Kampf gewonnen?

Es gibt Zeiten, da fühlen wir uns in unseren Kämpfen machtlos, es fehlt uns an Moral und Perspektive. Die Erfahrung in Rojava hat mich gelehrt, dass der Kampf ein lebenslanger Prozess ist. Natürlich gibt es Höhen und Tiefen, aber wenn wir unseren Verstand und unseren Willen vereinen, gibt es nichts, was wir nicht erreichen können. Wir sind in der Lage, alle Probleme zu lösen. Ich habe verstanden, dass Revolution nicht bedeutet, alles müsse sorgenfrei sein. Revolution ist eine ständige Veränderung. Die Herausforderung besteht darin, nach welchen Werten und mit welchem Ziel du Probleme bewältigst.

Das war meine tiefgründigste Erfahrung bei den YPJ und der Frauenbewegung. Die Frauenbefreiungsideologie ist ein so grundlegendes Instrument, unsere heutige Welt zu analysieren. Ohne sie wären wir, glaube ich, in noch viel größeren Schwierigkeiten. Wir müssen unser Verständnis und unsere Praktiken vertiefen und es mit immer mehr Frauen teilen. Aber für Frauen wie mich, die die Gesellschaft verändern wollen, hat diese Ideologie bereits Großes bewirkt.

Die Einheit von denken-sprechen-handeln ist etwas, das weit von der heutigen westlichen Denkweise entfernt ist und einen individuellen Ausweg nicht bietet. Ich kann es an mir selbst erkennen: Ohne meine Freund*innen wäre ich nicht in der Lage, viele meiner Grenzen zu überwinden, um meine revolutionäre Persönlichkeit zu entwickeln. Der Austausch zwischen uns lässt mich meine innere und äußere Realität besser verstehen. Ich habe bei der Bewegung eine erstaunliche Erfahrung damit gemacht, und ich möchte dazu beitragen, dass dies überall möglich wird. Dafür ist zwar viel Arbeit nötig, aber sie ist notwendig und in jedem Fall besser als jede Option, die der Kapitalismus bieten könnte.

Und wie geht es jetzt mit eingeschränkten Bürgerrechten weiter mit der Rojava-Solidarität?

Ich versuche so gut es geht, auf Webseiten und in sozialen Netzwerken über das Verfahren aufzuklären. Natürlich haben zivilgesellschaftliche Organisationen den Prozess aufmerksam verfolgt, aber die Facetten der Rojava-Revolution kennen nicht alle. Wenn es meinen Freund*innen und mir gelingen würde, gute Aufklärungsarbeit zu leisten, würde das Bewusstsein für den demokratischen Konföderalismus innerhalb der Gesellschaft stark wachsen. Eigentlich halte ich nicht viel von den sogenannten sozialen Medien, da ich es vorziehe, auf der Straße zu sein. Aber sie können als strategisches Werkzeug für den Kampf genutzt werden. Ich glaube aber auch, dass diese Phase eine Gelegenheit ist, mich weiterzubilden, an mir zu arbeiten und zur Vertiefung unserer Analysen beizutragen.

Du musst noch anderthalb Jahre im Hausarrest verbringen. Glaubst du, dass die Angriffe des italienischen Staates auf individuelle Freiheitsrechte eine kraftvolle Bewegung zum Vorschein brachten?

Ja sicher haben sie das, aber nur an einigen Orten oder infolge bestimmter Gegebenheiten. Wir müssen noch viel arbeiten, um die Kämpfe zu vereinen und eine Alternative für die Gesellschaft zu schaffen.