Im Verfahren gegen die kurdische Politikerin und Aktivistin Sevil Rojbin Çetin hat die Generalstaatsanwaltschaft vor dem 2. Schwurgerichtshof in Wan eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren gefordert. Anders als von der 43-Jährigen behauptet, sei sie „in terroristischer Weise“ in Erscheinung getreten, sagte der Staatsanwalt am Donnerstag in seinem Plädoyer. Çetin wird vorgeworfen, Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Die Kurdin weist die Anschuldigungen zurück und wertet das Verfahren als Teil des politischen Vernichtungsfeldzugs des türkischen Staates gegen die kurdische Kommunalpolitik und die Frauenbefreiungsbewegung. Die Anklage stützt sich im Wesentlichen nur auf die Aussagen anonym gehaltener Zeugen.
Sevil Rojbin Çetin ist Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung TJA (Tevgera Jinên Azad) und gleichzeitig Mitglied im kommunalpolitischen Ausschuss der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Im Juni 2020 war sie in ihrer Wohnung in Amed (tr. Diyarbakir) von maskierten Spezialeinheiten der türkischen Polizei überfallen worden. Bevor Çetin festgenommen wurde, erlitt sie eine rund dreieinhalbstündige Folter-Prozedur, an der elf Beamte beteiligt gewesen sein sollen. Diese hetzten zunächst zwei Hunde auf Çetin, dabei erlitt sie schwere Bisswunden an den Beinen. Dann wurde sie von Polizisten, die ihr eine Schusswaffe an den Kopf hielten, am Boden fixiert und mit Schlägen und Fußtritten traktiert. Am Ende des Martyriums wurde Çetin dann halbnackt ausgezogen und fotografiert. Fast zwei Wochen musste die an Gebärmutterkrebs erkrankte Kurdin damals in Polizeigewahrsam verbringen, bevor ein Gericht Untersuchungshaft anordnete. Aktuell ist sie im Frauengefängnis Diyarbakır inhaftiert.
Sevil Rojbin Çetin
Das Verteidigungsteam von Çetin glaubt, dass die Verhaftung der Politikerin von langer Hand vorbereitet gewesen ist. Der Prozess gehe auf Ermittlungen zurück, die lange vor ihrer Festnahme begangen, hieß es bei der letzten Verhandlung. Çetin befindet sich nicht zum ersten Mal im Gefängnis. Im März 2014 wurde sie bei den Kommunalwahlen zur Bezirksbürgermeisterin von Êrdmed (Edremit) in der Provinz Wan gewählt. Nur zweieinhalb Jahre später wurde sie zusammen mit ungefähr hundert weiteren Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern im kurdischen Südosten von ihrem Amt abgesetzt und inhaftiert. Rund vierzehn Monate befand sich Çetin damals hinter Gittern, ebenfalls unter sogenannten Terrorvorwürfen im Zusammenhang mit dem Widerstand für Selbstverwaltung in Nordkurdistan. 2019 wurde sie ein weiteres Mal inhaftiert, diesmal wegen Aktivitäten für die Bewegung Demokratischer Freier Frauen (DÖKH). Das von der Staatsanwaltschaft in Mêrdîn eingeleitete Verfahren wurde mit dem Prozess in Wan zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden. Das Urteil wird für den 24. Januar 2023 erwartet.