Mit dem Versuch der religiös-fundamentalistischen Rechtsregierung Polens, Schwangerschaftsabbruch generell zu verbieten, kam eine massive Protestbewegung gegen das Urteil des von der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) kontrollierten Verfassungsgerichts auf. Laut Verfassungsgericht verstößt die medizinische Indikation eines „schwerst geschädigten oder nicht überlebensfähigen Fötus“ als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch gegen die polnische Verfassung. Eine Abtreibung wäre nur im Falle einer Vergewaltigung möglich – und bei Gefahr für Leib und Leben. Hunderttausende Menschen, vor allem Polinnen, füllten daraufhin die Straßen der mitteleuropäischen Republik. Allein an einem Protest in Warschau nahmen etwa 150.000 Menschen teil. Die Protestbewegung der Frauen und der Druck der Öffentlichkeit in Polen haben sich – fürs Erste – ausgezahlt: Anfang November musste die polnische Regierung das neue Abtreibungsgesetz einstweilen zurückziehen. Präsident Andrzej Duda versucht den Gesetzentwurf nun auf modifizierte Weise durchzubringen.
Der Versuch der Durchsetzung einer solch frauenfeindlichen Gesetzgebung ist kein Einzelfall. In der Geschichte Polens wurde das Recht auf Schwangerschaftsabbruch mit dem Bündnis zwischen Kapital und Kirche immer weiter eingeschränkt. Parallelen zur islamistischen türkischen Regierung liegen auf der Hand. Diese Parallelen betreffen nicht nur die Angriffe auf das Recht auf Abtreibung, die Rechtsregierungen in Polen und der Türkei versuchen ebenfalls unisono einen Rückzug aus der Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt an Frauen durchzusetzen.
Die Dokumentarfilmerin, Soziologin und langjährige Aktivistin Nilgün Yelpaze stellt im ANF-Gespräch einen Vergleich zwischen dem Kampf gegen Schwangerschaftsabbruchverbote in der Türkei und in Polen an und spricht über gemeinsame Perspektiven. Yelpaze hat vor zwei Jahren eine Dokumentation mit dem Titel „Askı/Hanger/Wieszak“ über die Proteste gegen den Gesetzentwurf für ein Verbot von Schwangerschaftsabbruch im Jahr 2016 gedreht.
In Polen gab es sehr große Aktionen gegen das geplante Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Wie ist der juristische Umgang mit Schwangerschaftsabbruch in Polen in seiner historischen Dimension zu betrachten?
In Polen gab es ein 1956 verabschiedetes Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Dieses Recht überdauerte den Zusammenbruch der Sowjetunion und konnte bis 89-90 genutzt werden. Dabei war das Recht der Frauen auf Abtreibung nicht von bestimmten Bedingungen abhängig, sondern allein von der Erklärung der Frau. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die gesellschaftliche Klasse, welche die Aufbauphase eines kapitalistischen Polens, wie wir es heute kennen, anführte, vor allem mit der Kirche verständigt. Die katholische Kirche stellt daher einen sehr wichtigen Bestandteil der polnischen Identität dar. Das Erste, was getan wurde, war es, den Schwangerschaftsabbruch zu verbieten. Denn die Klasse, die den Übergang zum kapitalistischen System garantierte, hatte einige Verabredungen mit der Kirche getroffen und eine Allianz mit ihr auf der Grundlage des Versprechens, den Schwangerschaftsabbruch zu verbieten, gegründet. Seit den neunziger Jahren gibt es in Polen nur drei Situationen, in denen Schwangerschaftsabbruch nicht verboten ist.
Welche sind das?
Schwangerschaftsabbruch ist nicht verboten, wenn Lebensgefahr für die Frau besteht, der Fötus gesundheitliche Probleme hat oder die Frau aufgrund einer Vergewaltigung schwanger geworden ist. Da der Schwangerschaftsabbruch in den 90ern verboten wurde, hat diese Möglichkeit für die aktuelle Generation nie bestanden oder konnte zumindest nicht auf sichere Art und Weise als Recht genutzt werden. Die Frauen wurden in eine Welt geboren, in der die katholische Kirche propagierte, dass Abtreibungen falsch seien.
Und was sollte nun der zuletzt diskutierte Gesetzentwurf bringen?
Bereits 2016 ist versucht worden, die drei Situationen, in denen Schwangerschaftsabbruch in Polen gesetzlich möglich ist, zu annullieren. Dagegen gab es sehr großen Protest. Die Frauen lehnten sich gegen das geplante Abtreibungsverbot auf und zwangen die Regierung mit einem Streik zum Rückzug. Die Frauenbewegung betrachtete dies als einen Sieg. In Polen existiert heute eine Bewegung, die von Frauen angeführt wird, aber sowohl LGBTI+-Bewegungen, als auch demokratische und antifaschistische Bewegungen nahmen und nehmen an den Aktionen teil. Nachdem das Gesetz 2016 zurückgezogen worden war, ebbten die Proteste ab. Heute gibt es den Versuch, Schwangerschaftsabbruch vollständig zu verbieten. Aber diesmal geht man Scheibchenweise vor. Zuerst soll das Abtreibungsrecht in Bezug auf die Lebensfunktionen eines Fötus eingeschränkt werden. Das bedeutet, dass es verboten wird, einen Abbruch durchzuführen, wenn der Fötus eine Erkrankung aufweist oder Lebensgefahr besteht. Darauf wurde mit sehr großen Aktionen reagiert.
Meine persönliche Beobachtung ist, dass Verbote zurückgezogen werden, wenn die Menschen sofort protestieren. Wenn die Aktionen dann aber nicht weitergehen, werden diese Gesetze erneut eingebracht. Vielleicht geht die soziale Bewegung dieses Mal einen Schritt weiter und es könnte daraus ein Kampf für ein Recht auf legalen und sicheren Schwangerschaftsabbruch werden. Diese soziale Bewegung ist so stark, dass sie nicht nur in der Lage ist, einen Gesetzesentwurf zu kippen, sondern darauf hinwirken kann, dass dieses Recht in der gewünschten Weise umgesetzt wird. Ich kann mir vorstellen, dass in ein paar Jahren in Polen das gleiche wie in Irland geschehen wird und sich Frauen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch erkämpfen.
Erdoğan sagte in Anspielung auf das Massaker von Roboskî: „Jede Abtreibung ist ein Uludere“. In der Türkei ist der Abbruch selbst nicht, aber dessen Durchführung seit langem faktisch verboten. Könnte hier eine weitere Parallele zu Polen liegen?
Wir haben drei Situationen aufgezählt, in denen in Polen Schwangerschaftsabbruch nicht verboten ist. Wenn in Polen zum Beispiel eine Frau vergewaltigt wird, dann muss sie in einem gewissen Zeitraum eine gerichtliche Entscheidung erwirken. Mit dieser Entscheidung muss sie dann einen Arzt finden, der bereit ist, einen Abbruch durchzuführen. Das alles muss binnen acht Wochen geschehen, aber kein Gericht gibt den Frauen in dieser Zeit einen Beschluss. Insbesondere in den kleinen Städten im Osten und Süden von Polen haben die Ärzte das Recht, den Abbruch mit dem Argument, sie seien Katholiken, zu verweigern. Da die Frauen es nicht schaffen, innerhalb von acht Wochen sowohl einen Arzt zu finden als auch eine Gerichtsentscheidung zu erwirken, können viele die Schwangerschaft nicht abbrechen. Damit kann man von einem De-Facto-Verbot wie in der Türkei sprechen.
Aber weder diese De-Facto-Situation noch entsprechende Gesetze können jemals Schwangerschaftsabbrüche verhindern. Frauen, die einen Abbruch wollen, machen diesen auch, aber nicht auf legale, sichere Weise unter Krankenhausbedingungen, sondern in Hinterzimmern unter ungesunden und oft auch gefährlichen Bedingungen. Ob in Polen oder der Türkei, diese illegalen Schwangerschaftsabbrüche sind auch eine Klassenfrage. Denn die Frauen aus unteren Klassen, die ökonomisch nicht unabhängig sind, können diese Art der illegalen Schwangerschaftsabbrüche nicht durchführen. Sie sind gezwungen, entweder schwanger zu bleiben oder aber sie beenden ihre Schwangerschaft unter noch gefährlicheren Umständen. Da gibt es auf jeden Fall Parallelen, also diejenigen, die Geld haben, können einen Abbruch durchführen lassen, sie können ins wenige Stunden von Polen entfernte Deutschland oder in ein anderes Land reisen und dort das Problem lösen. Es gibt aber noch andere Probleme in den drei Fällen. Zum Beispiel hätte eine Frau im Falle einer Geburt ihr Sehfähigkeit vollkommen eingebüßt. Aber obwohl sie sich an die Gerichte wandte, konnte sie keine Entscheidung erwirken. Heute hat sie eine 15-jährige Tochter, aber sehen kann sie nicht mehr.
Die türkische Regierung wollte vor einiger Zeit Schritte unternehmen, um sich aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt zurückzuziehen. Daraufhin gab es massive Proteste, die Regierung legte das Vorhaben auf Eis. In Polen gab es eine ähnliche Diskussion. Können Sie die Frauenpolitik beider Staaten vergleichen?
Da beide Länder von religiös-konservativen, rechten Regierungen beherrscht werden, gibt es natürlich klare Parallelen. Der Diskurs gegen die Istanbuler Konvention in Polen ähnelt frappierend dem Diskurs in der Türkei. Polen will sich aus dem Übereinkommen zurückziehen und zusammen mit anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks, darunter der Ukraine und Russland, ein alternatives Abkommen unter dem Namen „Familienvertrag“ auf die Beine stellen. Die Argumentation der polnischen wie auch der türkischen Regierung beruht auf Frauenfeindlichkeit. So wird an allen Stellen, an dem das Wort „Frau“ vorkommt, dieses gestrichen und durch „Familie“ ersetzt. Es geht darum, die Definition von Frau außerhalb der Familie zu vernichten und die traditionelle Familienstruktur zu stärken. Dabei wird der Diskurs insbesondere gegen LGBTI+ gerichtet. In Polen heißt es zum Beispiel, die Istanbul-Konvention unterstütze die „Genderideologie“. Schwangerschaftsabbruch wird, mit Ausnahme der Feministinnen, von sozialen Bewegungen oder auch unserem eigenen Umfeld eher als ein individuelles Recht der Frau über ihren Körper definiert, aber eigentlich geht es dabei um viel mehr. Die beiden Länder sind sich auch in dem Punkt einig, dass sie die Frauen als „Gebärmütter“ betrachten und ihre Bevölkerungspolitik dementsprechend ausrichten.
So hatte Adolf Hitler zum Beispiel den Schwangerschaftsabbruch aus bevölkerungspolitischen Gründen verboten, und auch wenn Recep Tayyip Erdoğan sagt, bekommt drei oder fünf Kinder, bedeutet das nichts anderes als, gebärt dem Kapitalismus Arbeiter und dem Staat Soldaten. Deswegen geht es bei Abtreibung nicht nur um das individuelle Recht von Frauen über ihren Körper. Ob Kirche, kapitalistische Staaten oder Konservative, sie alle sehen die Frau nicht als Mensch. Sie definieren einen 20 bis 30 Tage alten Zellhaufen, also den Fötus, bereits als ihren Soldaten oder Arbeiter, das Leben der Frau wird absolut missachtet. Die abstrakte Idee von einem Kind ist ihnen wertvoller als eine Frau. Wir sprechen hier von einem System, dass an dem Punkt ist, sagen zu können: „Warum soll das Kind sterben, die Frau kann doch ihr Leben lassen“. Das zeigt die Perspektive des Systems auf Frauen in aller Deutlichkeit.
Sie haben eine Dokumentation mit dem Namen „Askı/Hanger/Wieszak“ über die Aktionen der Frauen gegen das Schwangerschaftsabbruchsverbot in Polen gemacht. Warum wurde der Kleiderhaken zu einem Symbol? Und was können Sie von ihren Erfahrungen bei den Protesten sagen?
Viele Frauen haben auf gefährliche Methoden zurückgegriffen, um einen Schwangerschaftsabbruch durch- bzw. herbeizuführen. Der Kleiderhaken ist eine der grausamsten dieser Methoden, deshalb rückte er in den Vordergrund. Bei den Protesten legten Frauen hunderte Kleiderbügel vor die Kirchen, auf die Plätze oder brachten sie einfach mit zu den Aktionen. Es gab radikalere Gruppen, die dafür kämpfen, dass Schwangerschaftsabbruch ein umfassendes Recht darstellen muss, aber auch liberale Gruppen, die nur wollten, dass das aktuelle Gesetz zurückgezogen wird, ebenso gab es anarchistische Gruppen… Sie haben es geschafft, sich als breites Bündnis zu organisieren und sind, wie wir es zuletzt in Warschau gesehen haben, dort mit 150.000 Menschen auf die Straße gegangen. Auch als 2016 versucht worden war, ein solches Gesetz durchzubringen, war es in Polen fast überall zu zeitgleichen Aktionen gekommen, es wurde ein Streik beschlossen und es entwickelte sich alles sehr schnell.
Es ist eine sehr schöne Sache, das Mittel des Streiks für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch anzuwenden und das gab Hoffnung. Denn aufgrund der Pandemie sind viele Rechte ausgehebelt worden und nicht nur in repressiven Staaten wie der Türkei oder Polen, sondern nahezu überall erlebt die extreme Rechte einen Aufstieg. So auch in Deutschland. Auch in der Bundesrepublik sind Abtreibungen nicht ganz einfach, denn es gibt klare Vorbedingungen. Diese rassistischen, religiös-konservativen Kreise greifen das Recht von Frauen auf Schwangerschaftsabbruch als auch die gesellschaftlichen Freiheiten von Frauen an. Die Aktionen stellen meiner Ansicht nach einem sehr schönen und hoffnungsvollen Versuch dar. Denn in den Jahren, als ich aus der Türkei nach Polen kam, hatte Erdoğan gerade das von Ihnen erwähnte Zitat „Jede Abtreibung ist ein Uludere“ abgegeben. Darüber hinaus hat er mit Äußerungen wie, macht drei Kinder, macht fünf Kinder, den Frauen das Kinderkriegen und Heiraten als alleinige Rolle zugewiesen. Dieser Diskurs brach zu dieser Zeit über uns herein – aber natürlich, damals kamen auch starke Antworten von der Frauenbewegung. Deswegen kann ich sagen, dass mich so etwas in Polen zu erleben gestärkt hat. In einem Land, in dem ich die Sprache nicht konnte, habe ich mich auf emotionaler Ebene dennoch nicht fremd gefühlt, deswegen habe ich die Kamera in die Hand genommen und begonnen, die Aktionen zu dokumentieren.
Die Aktivist*innen dort haben die Aufnahmen auch genutzt und verbreitet. So wurde ich auf diese Weise auch Teil dieser Bewegung. Später konnte ich durch meine feministischen Freundinnen hier, und meine polnischen Gefährtinnen eine Dokumentation aus den Aufnahmen erstellen. Die Dokumentation zirkulierte auf Unterstützungsveranstaltungen für die Aktionen gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbruch in Polen. Auch in Deutschland wurde der Film an verschiedenen Orten gezeigt. In der Türkei wurde er auf dem Arbeiterfilmfestival und auf einer Sondervorführung der „Frauenplattform Yoğurtçu“ gezeigt. In Diyarbakır wurde er im Rahmen des Festivals „FilmAmed“ gezeigt. Mein Ziel war es, am Beispiel des Kampfes gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbruch zu zeigen, dass die Frauen und LGBTI+-Bewegungen international betrachtet ähnliche Probleme erleben und diese in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Aktionsformen adressieren. Ich wollte etwas schaffen, dass Solidarität weckt und inspiriert. Wichtig noch zu sagen ist, dass das Problem der Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs natürlich ein Frauenproblem ist, aber auch Menschen, die sich nicht im Zweigeschlechtersystem verorten, die sich als non binary oder trans definieren, werden von diesen Verboten auf die gleiche Weise betroffen.