Zehn Jahre Stiftung der freien Frau in Syrien

Vor zehn Jahren wurde die Stiftung der freien Frau in Syrien gegründet: zehn Jahre Aufbau von Bildungsangeboten und Empowerment von und für Frauen und Kinder.

Interview mit Sultan Xişo

Am 1. September 2014 wurde die Stiftung der freien Frau in Syrien (Weqfa Jina Azad a Sûriya, WJAS) – zunächst als Frauenstiftung WJAR für Rojava, von kurdischen und arabischen Frauen in Qamişlo gegründet: zehn Jahre Aufbau von Bildungsangeboten und Empowerment von und für Frauen und Kinder. Anlässlich des Gründungsjubiläums hat das Europakomitee der Frauenstiftung ein Interview mit Sultan Xişo aus dem Vorstand der WJAS geführt.

Wie war die Situation der Frauen und Mädchen vor zehn Jahren? Wo seid ihr gestartet?

Zwei wesentliche Bedingungen haben das Leben der Frauen vor 2012 bestimmt: einerseits das Assad-Regime, das Frauen keine eigene Rechte zugestanden hat. Es gab keine Gesetze, die Frauen geschützt haben, z.B. im Fall von sogenanntem Ehrenmord, Zwangsheirat, Minderjährigenheirat, Polygamie oder Scheidung. Staatliche Institutionen und Regelungen waren auf die Interessen der Männer ausgerichtet. Ehrenmord etwa wurde – wenn überhaupt – nur geringfügig bestraft. Daran hat sich im Gebiet des Regimes auch bis heute nichts geändert.

Und andererseits die Religion und Kultur des Islam, die das Leben der Frauen begrenzt haben, sie auf Haus und Familie festgelegt haben.

Was waren die wichtigsten Gründe für den Aufbau von WJAS?

Die Rojava-Revolution bot Frauen Anlass und Gelegenheit für ihre Rechte zu kämpfen und ihre gesellschaftliche Position hatte sich auch verändert. Durch die überragende Rolle, die sie im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) beispielsweise bei der Befreiung der Stadt Kobanê eingenommen haben, war eine neue starke Seite von Frauen sichtbar geworden.

Die Strukturen der Selbstverwaltung haben von Anfang an auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Rolle der Frauen gesetzt. Das waren die Rahmenbedingungen.

Hinzu kam das Bewusstsein darüber, dass insbesondere Frauen und Kinder in Kriegen am stärksten betroffen sind, am meisten leiden. Dies führte zur Gründung der „Stiftung der freien Frau in Rojava“ (WJAR), heute „Stiftung der freien Frau in Syrien“ (WJAS). Zentrales Anliegen war, die Lebenssituation der Frauen und Kinder aufzugreifen und zu verbessern.

Mitarbeiterinnen der Stiftung in Qamişlo  © WJAS

Was sind die wichtigsten Entwicklungen für dich?

Alle Angebote und Projekte, die WJAS entwickelt und durchführt, sind auf die Verbesserung der Lebensbedingungen von armen Frauen und Kindern ausgerichtet, also auf diejenigen, die über keine Ressourcen verfügen, die niemand unterstützt. WJAS bietet Frauen ohne Geld die Möglichkeit, Kurse zu besuchen und zum Beispiel eine Ausbildung als Schneiderin oder im Friseurhandwerk zu machen. Das eröffnet Frauen, deren Mann verstorben ist die Chance, sich und ihre Kinder zu ernähren und entlässt sie aus der Abhängigkeit ihrer Herkunftsfamilie. Das bedeutet Freiheit für sie.

Die Büros und Kursangebote sind aber auch Orte, an denen Frauen zusammenkommen, wo sie füreinander da sind. Hier sprechen sie über ihre Probleme und kreieren gemeinsam Lösungen. Das ist eine wirklich neue Erfahrung.

Was sind die Gefährdungen heute?

Die Drohnenangriffe durch das türkische Militär zerstören und töten gezielt insbesondere Frauen mit wichtigen Funktionen in der Selbstverwaltung. So wie Yusra Derwêş, eine Französisch- /Kurdischlehrerin aus Amûdê, im Schulamt zuständig für Bildung und zeitweise Ko-Bürgermeisterin von Qamişlo, welche im letzten Jahr durch eine Drohne ermordet wurde. Oder Xalide Şerîf, die auch im Bildungsbereich tätig war, und ihr Sohn, die diese Woche in Qamişlo bei einem Drohnenangriff auf ihr Auto ermordet wurden. Diese permanente Verunsicherung führt dazu, dass man nicht mehr frei arbeiten kann. Unter der Bedrohung vermeiden wir große Versammlungen, Schutzkonzepte müssen von den Mitarbeiterinnen im Alltag beachtet werden. Wir haben unsere Arbeitsstrukturen den Bedingungen angepasst; Leitungspositionen etwa werden geteilt, um die Kontinuität der Arbeiten zu sichern.

Was machen zehn Jahre Krieg, Embargo und umfassender Mangel mit den Menschen?

Die Realität in Syrien ist geteilt. Der Arabische Frühling war ein Aufbruch, weil die Menschen ein besseres Leben haben wollten. In den selbstverwalteten Gebieten in Nord- und Ostsyrien wurde mit diesem Aufbau nach dem Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) begonnen und dies auch sehr erfolgreich, führte er doch zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Die Teilhabe der Menschen aller Ethnien wurde durchgesetzt. Menschen aus anderen Landesteilen siedelten sich hier an, Kriegsflüchtlinge kehrten zurück. Das Leben im Gebiet der Selbstverwaltung war deutlich besser als im Machtbereich des Assad-Regimes, dort blieb alles in den alten starren Strukturen.

Nach der seit Jahren andauernden Aggression des türkischen Militärs hat sich die Lage gewandelt. Die Wirtschaft ist durch das Embargo aller Nachbarstaaten am Boden. Die Zerstörung der Infrastruktur macht das Leben sehr schwer, es fehlt an ausreichend sauberem Wasser und Strom. Es gibt keine Sicherheit vor Zerstörung, Vertreibung und Tod. Sicherheit ist aber ein essenzielles Bedürfnis der Menschen. Das haben wir zuletzt beim koordinierten Angriff von IS-Truppen des Assad-Regimes und iranischen Milizen auf die Stadt Deir ez-Zor gesehen. So wie der IS auch Menschen in Europa, zuletzt bei Euch in Deutschland, in Solingen, bedroht.

Dieser immense psychische Druck tagtäglich, das Leben in Unsicherheit, ohne Hoffnung auf ein Ende der Drohungen? Wie lebt ihr damit? Wie leben die Menschen damit?

Konkret ist es so, dass die Nachbarschaft unseres Büros in Qamişlo sich wegen möglicher Angriffe auf uns sorgt, da diese sie in Mitleidenschaft ziehen würden. Den ständigen Druck und das Leid spüren alle Menschen hier. Sie führen zu Depressionen, Angststörungen, Magen-Darm-Erkrankungen nehmen massiv zu, auch wegen des schlechten Wassers. Wir verzeichnen eine Zunahme von gefährlichen Brandunfällen, weil Gaskocher wegen des allgegenwärtigen Mangels mit nicht zugelassenem Diesel betrieben werden. Immer wieder kommt es zu Toten und schwer verletzten Personen. In Amûdê sind zuletzt vier Mitglieder einer Familie auf diese Weise gestorben.

Neben Krankheiten und Unfällen haben auch Scheidungen zugenommen. Die Suizidrate bei Jugendlichen ist angestiegen, sie sind oft ohne Hoffnung auf ein gutes Leben. Viele Menschen wollen nur noch weg, sich auf den gefährlichen Weg der Flucht nach Europa begeben.

Welchen Einfluss nimmt die Arbeit der Frauenstiftung auf die Entwicklung der Frauen und des Frauenbewusstseins?

Die praktischen Ausbildungen und Kurse und die theoretischen Bildungen kommen sehr positiv bei den Frauen an. Angebote gibt es mittlerweile an 16 Orten in der Region und in Aleppo. Die vielen Teilnehmerinnen und die Mitarbeiterinnen von WJAS sind Multiplikatorinnen, sie bilden Bewusstsein, das auch andere Frauen motiviert sich weiterzubilden. Die Frauen kommen gerne zum Sport und in unseren Kursen zusammen, sie tauschen sich aus. Es fühlt sich gut an, die eigenen Gedanken und Sorgen zu teilen. In den Alphabetisierungskursen sind besonders die älteren Frauen sehr stolz darauf, Neues zu lernen, ihren Namen schreiben zu können oder einfach die TV-Fernbedienung handhaben zu können.

Welchen Einfluss nimmt die Arbeit der Frauenstiftung, auch vernetzt mit anderen im Frauenbereich, auf die gesellschaftliche Entwicklung?

Wir haben als Vertreterinnen der Frauen einen Platz in der Volksversammlung. Dort wirken wir zusammen mit den anderen Frauenorganisationen und arbeiten mit an Gesetzen und Regeln, vor allem wenn diese Frauen und Kinder betreffen und Themen wie Heirat, Scheidung, Erbrecht etc. behandeln. Wir vertreten die Interessen der Frauen dort. Es ist nicht mehr wie früher, dass allein die männliche Sichtweise dort berücksichtigt wird. Gemeinsam kämpfen wir für die Frauenrechte und sind dabei sehr erfolgreich.

Verändert sich auch das Bewusstsein der Männer durch die Arbeiten der Frauenorganisationen?

Der Aufbruch der Frauen hatte sofort Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Familie. Männern fiel es am Anfang schwer, diese Veränderungen zu akzeptieren. Das kam auch daher, dass sie es nicht richtig verstanden haben. Sie hatten Befürchtungen, dass die Frauen sie aus ihrem Leben ‚hinauswerfen‘ würden. Mit der Zeit haben sie es aber verstanden. Jetzt gibt es viele Männer, die unterstützen, dass die Frau sich bildet und weiterentwickelt. Sie teilen sich die Verantwortung für Familie.

Wie feiert ihr euer zehnjähriges Jubiläum?

Eine für den 1. September geplante Feier haben wir auf den 30. September verschoben in der Hoffnung, dass es dann wieder ruhiger ist. Unsere Büros in Raqqa sind momentan leider geschlossen, die Bedrohung durch Schläferzellen des IS ist derzeit dort sehr hoch.

Was sind die Pläne für die nächste Zeit?

Wir hoffen, den Kongress Ende September durchführen zu können und bereiten uns darauf vor, die Arbeiten in Şehba (Flüchtlingslager nahe Efrîn) endlich aufnehmen zu können.

Was wünscht ihr euch?

Wir wünschen uns eine bessere finanzielle Absicherung für die Arbeiten der Frauenstiftung und der Mitarbeiterinnen, weil die Lebenshaltungskosten so extrem angestiegen sind. Wir wünschen uns Frieden oder wenigstens eine Flugverbotszone, die uns schützt, und ein Ende des Wirtschaftsembargos.

Spendenkonto
Kurdistanhilfe e.V., Hamburg/Deutschland
Stichwort: WJAS
Hamburger Sparkasse
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
BIC: HASPADEHHXX
Die Kurdistan-Hilfe e.V. ist als gemeinnütziger Verein anerkannt. Spenden sind in Deutschland steuerlich absetzbar. Bitte Adresse deutlich angeben.

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