Während sich Bundesaußenminister Heiko Maas laut Auswärtigem Amt mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu in einer Videokonferenz zu einem „vertrauensvollen Austausch über Perspektiven für Tourismus, Situation im östlichen Mittelmeer und bilaterale Themen“ getroffen hat, sind in mehreren Städten Nordkurdistans und der Türkei erneut Menschen für die Einhaltung demokratischer Mindeststandards auf die Straße gegangen. Die Protestaktionen richteten sich gegen die Einsetzung von Zwangsverwaltern in den ehemals von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) regierten Rathäusern.
In Sûr, der Altstadt von Amed (Diyarbakir), kam eine Gruppe von HDP-Politiker*innen vor dem Bezirksverband der Partei zusammen, darunter auch der abgesetzte und erst kürzlich aus der Haft entlassene Bezirksbürgermeister Cemal Özdemir. Hatun Yilmaz, die Bezirksverbandsvorsitzende von Sûr, erklärte in einer Rede: „Wir verurteilen dieses antidemokratische Vorgehen, das in der Bevölkerung keinerlei Legitimation genießt. Zwangsverwaltung bedeutet Usurpation. Laut den Gesetzen ist das illegal. Wir werden diese Straftat weiter auf allen Plattformen deutlich machen.“
Ähnlich äußerte sich der HDP-Abgeordnete Hasan Özgüneş in Silopiya (Silopi): „Die Zwangsverwaltung ist ein Putsch gegen den Wählerwillen. Als die Kraft für Freiheit und Demokratie, die Kraft der Völker, der Werktätigen und der Frauen kann uns die Repression nicht aufhalten. Wir werden diese Rathäuser zurückgewinnen und der Türkei Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit bringen.“
Die HDP-Vorsitzende der Provinz Riha (Urfa), Emine Çetiner, erklärte bei einer Protestveranstaltung vor dem Parteigebäude in der Stadt: „Die Regierung setzt Zwangsverwalter ein und will daraus einen Dauerzustand machen, weil sie den Wählerwillen nicht anerkennt und sich vor der HDP fürchtet.“ Der HDP-Abgeordnete Ömer Öcalan ergänzte: „Das kurdische Volk kämpft seit vielen Jahren und wird diesen Kampf fortsetzen.“
Auch in Semsûr (Adıyaman) und in Adana wurden ähnliche Erklärungen abgegeben.
Haft und Hausarrest für abgesetzte Bürgermeister
Ein Gericht in Sêrt hat unterdessen vier abgesetzte Bürgermeister*innen der HDP unter Hausarrest gestellt und ein Ausreiseverbot verhängt. Bei den Betroffenen handelt es sich um die Ko-Bürgermeisterin von Sêrt, Berivan Helen Işık, ihren Amtskollegen aus Misirc (Kurtalan), Baran Akgül, und die beiden Ko-Bürgermeister*innen von Hawêl (Baykan), Ramazan Sarsılmaz und Özden Gülmez. Zwei weitere Ko-Bürgermeister*innen sowie Eşref Tekin, Beşir Aksu und Gülçin Konneş, die in der Stadtverwaltung von Sêrt gearbeitet haben, und Resul Kaçar, der im vergangenen Jahr zum Bürgermeister gewählt wurde, danach jedoch vom Wahlausschuss als ungeeignet abgelehnt wurde, sind gegen Meldeauflagen auf freien Fuß gesetzt worden.
Am vergangenen Freitag waren fünf weitere von der HDP regierte Kommunen in Nordkurdistan unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die wie in allen Gremien der HDP als genderparitätische Doppelspitze gewählt wurden, wurden anschließend festgenommen. Neben den Provinzhauptstädten Sêrt und Reşqelas (Iğdır) sowie den Kleinstädten Misirc und Hawêl ist auch die Gemeinde Vartinîs (Altınova) betroffen. In den Rathäusern sitzen mittlerweile Verwaltungsbeamte der AKP-Regierung. Die Bürgermeister von Reşqelas und Vartinîs wurden inzwischen inhaftiert.
Das türkische Innenministerium begründet die Absetzung der HDP-Politiker*innen mit vage formulierten Vorwürfen wie „Mitgliedschaft in einer verbotenen Terrororganisation“ und „Terrorpropaganda“. Konkrete Anklagen gegen die Betroffenen liegen nicht vor, die Ermittlungen gegen sie wurden im vergangenen Jahr eingeleitet. In allen Fällen wurden die Ermittlungsakten als Verschlusssache eingestuft.