„Wir können alles vergessen, aber nicht Efrîn“

Ehemalige Besitzer von Olivenhainen und Olivenfabriken berichten aus dem Exil in der selbstverwalteten Region Şehba über die Plünderungen durch die Türkei in Efrîn.

Mit der Besetzung des Kantons Efrîn in Rojava (Nordsyrien) begann im Frühjahr 2018 durch die Türkei die systematische Ausplünderung und Zerstörung der einst selbstverwalteten Region. ANF hat mit früheren Bewohnern Efrîns gesprochen, die im benachbarten Şehba Schutz fanden und sich nun von dort aus selbst organisieren.  

Einer von ihnen ist Necib Şêxo. Einst lebte er in dem Dorf Ruta in Efrîn-Mabeta und war Eigentümer einer Olivenölfabrik. Gemeinsam mit anderen Unternehmern aus der Branche gründete er einen Interessenverband. „Diese Einrichtung ermittelte 280 voll funktionstüchtige Olivenölfabriken in Efrîn. Nach mehr als drei Jahren Besatzung sind heute lediglich etwa hundert erhalten geblieben. Der Rest wurde ausgeplündert. Die etwas hochwertigeren Geräte und Maschinen sind in die Türkei gebracht worden, andere nach Idlib. Manche Milizen stahlen sie sich gegenseitig und verkauften sie einander.“

Şêxo berichtet von 16 Betrieben, die Seife aus grünen Oliven produzierten. Ihr Schicksal gleiche dem der Ölfabriken. Auch alle Olivenplantagen wurden beschlagnahmt. „Ich kenne die Besitzer vieler Seifenfabriken. Diese Betriebe wurden allesamt von den Invasoren geplündert und die Maschinen in die Türkei geschmuggelt. Die Besitzer von 50 der 100 verbliebenen Olivenölfabriken in Efrîn befinden sich aufgrund der Besatzung in Şehba oder Aleppo. Ihre Fabriken wurden von Dschihadisten beschlagnahmt und werden von ihnen betrieben. Jede Söldnertruppe kontrolliert ein eigenes Gebiet.“

 

„Die Invasionstruppen haben alles geraubt“

Auch andere Sektoren seien betroffen, fährt Şêxo fort. Neben der Produktionsstätte für Olivenöl betrieb er selbst eine Wasserfabrik. Deren Maschinen seien ebenfalls gestohlen und in die Türkei gebracht worden. „Jetzt haben sie mein Fabrikgebäude in eine MIT-Zentrale verwandelt. Es gab 60 Häuser in unserem ausschließlich von Kurden bewohnten Dorf mit rund 15.000 Olivenbäumen. Bis auf drei Familien mussten alle wegen der Besatzung fliehen. Als die Söldner einfielen, lagerten in Ruta etwa 15.000 Säcke Oliven. Sie raubten alles. Eine weitere Olivenölfabrik in unserem Dorf gehörte einem älteren Nachbarn, er hieß Suleyman Hasan. Der Betrieb ist von Abu Dschihad von der Samarkand-Brigade (früher Teil der „Syrischen Turkmenenbrigaden“, ANF) geraubt worden.“

Şêxo berichtet von den Erpressungsmethoden gegenüber der verbliebenen Bevölkerung: „Diese Söldner zwingen die Menschen in unserem Dorf, ihre Oliven bei den von den Milizen betriebenen Fabriken abzugeben. Die Menschen haben Angst und machen das.“ Früher seien in der Gegend um Mabeta zwei Kanister Olivenöl aus einem Sack Oliven hergestellt worden. Jetzt wäre die Produktion des Öls vollkommen intransparent, die Hälfte verschwinde bereits in der Produktionsphase. Wenn die Menschen das gepresste Öl aus den Fabriken abholen, würden sie erneut von Söldnern „besteuert“. Etwa zehn bis 15 Kanister Olivenöl würden auf diese Weise von jeder Familie am Ende der Saison abgepresst.

„Mit Druck wird zu Spottpreisen eingekauft“

Inzwischen hat das Besatzungsregime einige der ausgeplünderten oder beschädigten Olivenölfabriken reparieren lassen. Das Öl wird nun zum Teil in Efrîn gepresst und dann in die Türkei gebracht. Şêxo erzählt: „Sie setzen die Bevölkerung unter Druck und zwingen sie, das in Efrîn produzierte Olivenöl zu einem sehr niedrigen Preis zu verkaufen. Gesammelt wird es in der Fabrik von Nûri Arap in Cindirês. Von dort aus gelangt es durch den gegenüberliegenden Übergang im Dorf Hamam in der türkischen Provinz Hatay über die Grenze in die Türkei. In den Jahren 2017-2018, als wir noch in Efrîn lebten, wurde ein Kanister Olivenöl für 30.000 Lira pro Saison verkauft. Zu dieser Zeit lag der Dollar etwa bei 500 syrischen Lira. Heute liegt der Dollar bei 4.000 Lira. Ein Kanister Olivenöl sollte 150.000 Lira kosten. Wir haben einige Verwandte in Deutschland. Sie sagen, dass das Olivenöl von Efrîn für 200 Euro verkauft werde. Die Türkei hat ein System mit eigenen Räten, Söldnern und Händlern eingerichtet; den Menschen wird ein Kanister Olivenöl für 30 bis 35 Lira abgekauft. Das ist nichts anderes als Raub. Sie haben bereits die Hälfte beschlagnahmt, und sie kaufen die andere Hälfte zu einem Spottpreis. Aus den Oliven von Efrîn wird nicht nur Olivenöl hergestellt, sondern auch Hunderttausende Tonnen Seife. Diese Seife deckte vor der Invasion den Bedarf ganz Syriens ab. Die Besatzer bringen alle unsere Ressourcen jetzt über den Grenzübergang Hamam in die Türkei. Sie haben Efrîn nichts gelassen. Die Türkei verkauft die Oliven, die aus Efrin gestohlen wurden, an Länder wie die Vereinigten Staaten, Spanien, Deutschland.“

„System der Plünderung“

Şêxo geht auch auf Assimilationspolitik und Zerstörung der kurdischen Kultur ein: „Die [Besatzer] sind Kurdenfeinde. Sie sagen, es wird keine Selbstverwaltung, kein Kurdisch und keine Kurden mehr hier geben. Sie wollen jegliche kurdische Existenz in Efrîn beenden. Immer wieder wird gesagt, ‚Die Söldner plündern und morden.‘ Aber wer sind diese Söldner? Sie gehören alle zum MIT, sie sind alle türkische Soldaten geworden. Sie tun alles, was die türkische Regierung ihnen befiehlt. Früher lebte ich in Aleppo und arbeitete als Autohändler. Ich kannte viele Menschen aus Idlib, die im Sold der Besatzer sind. Mit einigen habe ich telefoniert und den Wunsch geäußert, auf mein Land zurückzukehren. Sie sagten: ‚Onkel, wenn du kämst, würden wir dich köpfen. Wir wollen dich nicht töten, aber wir sind Befehlsempfänger. Wir tun, was die Türkei sagt. Wir haben kaum 20 Prozent dessen getan, was die Türkei uns befohlen hat.‘ Das Ziel der Türkei ist es, die Kurden aus Efrîn zu vertreiben.“

Kurdische Kollaborateure der Besatzer

An der Invasion beteiligten sich nicht nur türkische Truppen, dschihadistische und rechtsextreme Söldner, sondern auch kurdische Kollaborateure des sogenannten Kurdischen Nationalrats (ENKS). Der ENKS ist ein Fortsatz der südkurdischen PDK und hat kaum eine politische Basis in Rojava und Syrien. Dennoch oder vielleicht auch deswegen wird der ENKS immer wieder als internationaler Ansprechpartner für die Kurden in Nordsyrien von Regierungen herangezogen und finanziell unterstützt.

„ENKS beteiligte sich mit sechs Milizen an Efrîn-Invasion“

Die Menschen Nordsyriens sind wütend wegen der engen Zusammenarbeit des ENKS mit dem MIT und seinen permanenten Versuchen, die Region Nordsyrien zu destabilisieren. So sagt Necib Şêxo: „Die ganze Welt soll wissen, dass der ENKS, auch wenn er sich so präsentiert, nicht unser Vertreter ist. Er ist nichts weiter als ein Eindringling. Der ENKS beteiligte sich mit sechs Milizen an der Efrîn-Invasion.  Diese Milizen haben zusammen mit der Türkei und ihren Söldnern unsere Häuser und unser Eigentum geplündert. Heute sind sie auch dabei. Sie zeigen den türkischen Truppen und ihren Söldnern die Wege und die Dinge, die ihnen nicht bekannt sind. Sie denunzieren patriotische Kurden und töten sie.“

„Unser Dorf wurde in eine Militärbasis umgewandelt“

Zuheyr Muhammed Ali stammt aus dem Dorf Tilfe in Efrîn-Stadt. Sowohl seine Maschinenbaufirma für die Olivenölproduktion, seine Werkstatt und seine Olivenölfabrik wurden geplündert. Er berichtet: „Da ich die Maschinen für die Olivenölproduktion lieferte und reparierte, kenne ich die Olivenölfabriken in der Region sehr gut. Es gab insgesamt 315 Produktionsstätten für Olivenöl in Efrîn. Davon waren 280 aktiv. Als Efrîn überfallen wurde, mussten wir die Region verlassen. Wir konnten nichts mitnehmen. Die Söldner haben unsere Häuser, unsere Fabriken, sie haben alles geplündert. Nach dem Raub meiner Fabrik wurde sie aus der Luft bombardiert. Das Dorf Tilfe ist für seinen Hügel bekannt. Die Türkei hat in unserem Dorf ein Militärlager errichtet. Ich klage das Erdoğan-Regime gegenüber der Welt an. Sie haben acht Monate lang niemanden ins Dorf gelassen. Jetzt schießen sie von dort aus Granaten auf Şehba und Şêrawa ab.“

 

Alis Haus und Fabrik lagen dicht beieinander. Die Besatzungstruppen hätten eine türkische Flagge auf das Wohngebäude gemalt und mit türkischsprachigen Phrasen beschmiert. Mittlerweile werde die ausgeräumte Fabrik als Viehstall benutzt. Ein anderes Haus sei in eine Moschee umgewandelt worden, ebenso lebten im Haus des Sohnes nun Söldner. „Wenn ich nur kalkuliere, was sie aus den Fabriken gestohlen haben, beträgt mein Verlust eine siebenstellige Summe in US-Dollar. Auch mein Besitz wurde beschlagnahmt. Mindestens 25.000 Kanister Olivenöl wurden in jeder Olivenölfabrik in Efrîn hergestellt. Dieses Olivenöl wird jetzt alles in die Türkei gebracht.“

„Ich werde das Grab meines Vaters nie vergessen“

Das sei viel Geld, unterstreicht Ali. Selbst wenn seine Kindeskinder noch arbeiten würden, könnte dieser Schaden nicht aufgewogen werden. „Wir können alles vergessen, aber nicht Efrîn. Unsere Geschichte ist dort, das Grab unseres Vaters, unsere Erinnerungen sind dort. Dort sind unsere Olivenbäume. Ich kann das Geld, das ich verloren habe, vergessen, aber ich kann das Grab meines Vaters, meine Erinnerungen, mein Land, meine Olivenbäume niemals vergessen. Ich denke jeden Tag darüber nach. Nicht alles kann mit Geld aufgewogen werden. Alles wurde geplündert und verbrannt.“

Unter der Selbstverwaltung, als Efrîn von den YPG geschützt wurde, habe er wie der Rest der Bevölkerung „in Ruhe und Frieden“ gelebt, sagt Zuheyr Muhammed Ali. „Wir machten unsere Arbeit, niemand mischte sich ein, stahl etwas oder setzte uns unter Druck. Ich wende mich an die Welt: Wie kann es sein, dass wir diese Ungerechtigkeit im 21. Jahrhundert erleben? Wir wurden von der Türkei aus unseren Häusern und von unserem Land vertrieben, und alles wurde geplündert. Unsere Kindheitserinnerungen sind in Efrîn. Bringt mir das Foto von einem Stein in Efrîn und ich werde ihn wiedererkennen. Wir können unsere finanziellen Verluste vergessen, aber wir werden diese Ungerechtigkeit und Efrîn nie vergessen.“