Die Türkei erhebt Anspruch auf die Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer und ist bereit, die Situation im griechischen Seegebiet militärisch eskalieren zu lassen. Der Istanbuler Politologe und Autor Cengiz Aktar klärt im ANF-Interview über die völkerrechtlichen Aspekte der türkischen Ansprüche auf.
Wie bewerten Sie die Ansprüche der Türkei auf die Erdgasquellen im griechischen Seegebiet und ihr aggressives Vorgehen im Mittelmeer vor dem Hintergrund des Völkerrechts?
Die Türkei ist ein Land, das weder Recht noch Gerechtigkeit oder rechtmäßiges Vorgehen anerkennt. Sie hält sich nicht an das Völkerrecht, sondern macht sich ihre eigenen Regeln. Nordzypern ist dafür ein Beispiel. Niemand außer der Türkei erkennt diese Region an. Dort wird türkisches Recht angewandt. Letztes Jahr im November haben die Türkei und die libysche Regierung in Tripolis ein Grenzabkommen über das Mittelmeer abgeschlossen. Dieses Abkommen hat nichts mit dem Völkerrecht oder dem Seegewohnheitsrecht zu tun. Es ist in keiner Hinsicht legitim. Die Türkei entscheidet nach Gutdünken und zwingt diese Entscheidung der Welt auf. In Bezug auf Griechenland können wir dieselbe Situation beobachten. Das Abkommen zwischen Ankara und Tripolis zieht eine Grenze, ohne die kleinen Inseln Griechenlands oder das ziemlich große Kreta in irgendeiner Weise zu beachten. Die im Moment andauernden und die abgeschlossenen Sondierungen nach fossilen Brennstoffen im Südwesten von Zypern folgen dem gleichen Muster. Wir können feststellen, dass das Vorgehen der Türkei nicht über einen Funken völkerrechtlicher Legitimität verfügt.
Was hat die Türkei mit einem solchen Vorgehen vor, der Konflikt auch mit Frankreich verschärft sich ja und Erdoğan eskaliert immer weiter?
Die Türkei agiert nicht nur hier so, wenn wir nach Syrisch-Kurdistan, also Rojava schauen, dann sehen wir, dass es sich bei der Türkei um ein zu hundert Prozent imperialistisches Land handelt. Aber natürlich findet die Regierung immer eine Ausrede, um sich dahinter zu verstecken. Es gibt Länder, denen kann die Türkei das, was Rojava ebenso wie Libyen betrifft, so verkaufen, wie sie das möchte. Deutschland steht sicherlich an der Spitze dieser Staaten. Das liegt daran, weil Deutschland um jeden Preis Probleme mit der Türkei vermeiden möchte. Deutschland hört deshalb auch nicht auf, Waffen an die Türkei zu verkaufen. Aber es gibt auch eine andere Realität. Was die Türkei gerade in der Ägäis und im Mittelmeer tut, indem sie alle internationalen Regeln verletzt, mag kurzfristig so aussehen, als würde es Profit bringen, aber langfristig ist das unmöglich. Nehmen wir zum Beispiel einmal an, dass zufällig fossile Brennstoffe im Südwesten Zyperns gefunden werden. Dann wird es schwer oder gar unmöglich für die Türkei sein, sie dort zu fördern. Aber darum geht es ihr auch eigentlich weniger, es geht um eine Machtdemonstration. Wenn wir es uns realistisch betrachten, dann bewegt sich Ankara mit seiner internationalen Strategie in einer Traumwelt.
Sie meinen also, die Türkei könne keinerlei Profit aus ihrer Mittelmeerpolitik schlagen?
Das ist eigentlich schon allein technisch nicht möglich. Denn die Sondierung findet in der Tiefsee statt. Es gibt überall auf der Welt Öl oder Gas. Wo man auch gräbt, kann man etwas finden. Aber die Förderkosten sind sehr hoch. Deswegen sage ich auch, es geht der Türkei nicht darum, die Trauben zu essen, sondern den Besitzer des Weinbergs zu schlagen [hier ist Griechenland gemeint]. Dazu kommt, dass dort eine der stürmischsten Regionen des Mittelmeers liegt. Außerdem fallen weltweit die Öl- und Gaspreise. Experten haben schon mehrfach festgestellt, dass hier umsonst Geld herausgeschmissen wird. Außerdem hat die Türkei massiv in Schiffe investiert. Sie hätten gemietet werden können, es wurde jedoch auf dem Kauf bestanden. Nehmen wir an, die Türkei fände Öl oder Gas. Aber wenn das nicht ihre Hoheitsgewässer sind und ihre Bohrungen nicht mit internationalen Abkommen vereinbar, gibt es keine Möglichkeit, dieses Öl oder Gas zu fördern. Deswegen sage ich, das Regime in Ankara lebt in einer Traumwelt. Sie versucht sich so über den Tag zu retten.
Die EU hat sich hinter Frankreich gestellt, aber Deutschland stellt sich wieder an die Seite der Türkei. Warum ist das so?
Hier gibt es eine historische Dimension. Im Gedächtnis des deutschen Staates hat die Türkei immer einen positiven Platz gehabt. Das ist vom armenischen Genozid 1915 an bis heute so gewesen. Damals verschloss die deutsche Regierung ihre Augen vor dem Genozid. Natürlich, wenn wir uns die Situation heute anschauen, dann gibt es auch objektivere Gründe. Sicherlich steht dabei die Flüchtlingsfrage ganz oben auf der Liste. Deutschland hat Angst, dass Schutzsuchende aus Syrien oder anderen Ländern über die Türkei nach Deutschland kommen. Deswegen unterstützt sie hier die Gendarmen-Rolle der Türkei und heißt sie gut. Außerdem will Deutschland die Türkei nicht an Russland verlieren; aber meiner Meinung nach ist dieses Kapitel längst geschlossen. Denn die Türkei ist kein Verbündeter des Westens mehr. Darüber hinaus gibt es enge Wirtschaftsbeziehungen. Ganz vorne steht hier der Verkauf von Waffen. Nicht nur Deutschland liefert Waffen an die Türkei, man darf auch Italien und Spanien nicht vergessen. Aber wie ich gesagt habe, die Wurzel dieser schmutzigen Beziehung liegt in der Geschichte. Deswegen habe ich den Genozid an den Armeniern angesprochen. Für die deutsche Regierung wird die Türkei immer mehr Gewicht als Griechenland haben. Obwohl Griechenland ein Verbündeter Deutschlands ist, hat sich Deutschland immer gegen die Interessen Griechenlands gewandt. Das ist Ausdruck dieser absurden Beziehung.
Im Vergleich zu Deutschland steht Frankreich zu Griechenland und dem Völkerrecht. Andererseits kann man nicht sagen, dass Griechenland oder die Türkei in der Frage der Hoheitsgewässer zu hundert Prozent Recht haben. So ist es absurd zu behaupten, dass die Hoheitsgewässer um Kastelorizo nur Griechenland gehören. Das weiß Griechenland auch. All diese Fragen müssen im Rahmen des Völkerrechts diskutiert werden. Aber was tut die Türkei? Sie stellt sich ihre eigenen Regeln auf. Aber so läuft es nicht. Deswegen intervenieren Frankreich und andere Staaten. In der kommenden Woche werden die Flugzeuge der Vereinigten Arabischen Emirate und die griechischen Streitkräfte ein gemeinsames Manöver vor Kreta durchführen. Es gibt viele Länder auf der Welt, die bereit sind, sich gegen die Türkei zu stellen. Insbesondere die Vereinigten Arabischen Emirate, Frankreich, Ägypten und Saudi-Arabien stärken Griechenland den Rücken. Unter diesen Umständen scheint es unwahrscheinlich, dass die Türkei ihre eigenen Regeln durchsetzen und daraus Profit in der Region ziehen können wird.
Ende September wird wieder ein EU-Gipfel stattfinden. Sie sagen, es werde keine Sanktionen geben, aber was wird dort auf den Tisch kommen?
Eigentlich gibt es zuerst ein Gipfeltreffen Ende August, dort wird darüber gesprochen und später zu dem Termin, den Sie genannt haben, findet eine Sondersitzung des Europarats allein zum Thema „östliches Mittelmeer“ statt. Es wird diplomatischen Druck geben, auch wenn es keine Sanktionen daraus hervorgehen und Deutschland hier ein anderes Lied singt. Es ist nicht nur Deutschland, wie gesagt, es gibt auch Italien und Spanien. Auch Bulgarien, Mazedonien und Malta unterstützen die Türkei. Selbst ohne ernsthafte Sanktionen ist es für das Regime in Ankara keine gute Sache, andauernd mit Konflikten auf der Agenda der EU zu stehen. Wirtschaftlich befindet es sich hoher Bedrängnis und auch die politische Situation in der Türkei ist einschließlich der Beziehungen zum Ausland ohnehin absolut festgefahren. Die Sanktionen schweben weiterhin wie ein Damoklesschwert über Ankara.
Wie schätzen Sie das Risiko einer militärischen Eskalation zwischen Griechenland und der Türkei ein?
Das kann passieren. Das kann auch Deutschland nicht verhindern. Dazu fehlt Deutschland das Gewicht. Deutschland hat auch nicht wie Schweden oder Norwegen die praktische Erfahrung, um in großen internationalen Konflikten zu vermitteln. Das Risiko bleibt also bestehen. Tatsächlich glaube ich, dass dieses Risiko vor den Präsidentschaftswahlen in den USA nicht geringer werden wird. Ankara kann irgendeinen Irrsinn tun. Besonders groß ist die Gefahr im September, wenn die Bohrungen vor Kreta beginnen sollen.