„Die Regierung will mit Krieg von der Wirtschaftskrise ablenken“
Der Wirtschaftswissenschaftler Ramazan Tunç wirft der AKP/MHP-Regierung vor, die Wirtschaftskrise in der Türkei durch Krieg verschleiern zu wollen.
Der Wirtschaftswissenschaftler Ramazan Tunç wirft der AKP/MHP-Regierung vor, die Wirtschaftskrise in der Türkei durch Krieg verschleiern zu wollen.
Die Türkei steuert auf einen Zusammenbruch zu, insbesondere wenn man ihr Scheitern in der Außenpolitik im Mittelmeerraum, die Angriffe auf Südkurdistan und die ökonomische Situation im Inland betrachtet. Analysten betrachten die Angriffe auf Südkurdistan und Libyen sowie die Aggression der Türkei im Mittelmeerraum als Taktik, um von der katastrophalen Wirtschaftslage abzulenken. Die Situation wird für die arme Bevölkerung aufgrund des andauernden Wertverlusts der türkischen Lira immer dramatischer. Auch wenn der Finanzminister und Erdoğan-Schwiegersohn Berat Albayrak behauptet, die Wirtschaft in der Türkei laufe wunderbar, so sind Fachleute von der Tiefe der Krise, in der die Türkei steckt, überzeugt. Sie stellen fest, dass die Auslandsverschuldung der Türkei so hoch wie nie ist und sich die Probleme im Land weiter verschärfen werden, wenn die aktuelle Politik fortgesetzt wird.
Der Wirtschaftswissenschaftler Ramazan Tunç hat sich in Amed (türk. Diyarbakir) gegenüber ANF zu der aktuellen Situation in der Türkei geäußert.
Wechselkurse und Arbeitslosenzahlen
Tunç sieht den Beginn der Eskalation der tiefen ökonomischen, sozialen und demokratischen Krise der Türkei im Jahr 2015 – dem Jahr, in dem die Gespräche mit Abdullah Öcalan auf Imrali einseitig vom der Regierung beendet wurden und der türkische Staat auf eine umfassende militärische Eskalation setzte. Im Jahr 2017 sei die Krise dann noch sichtbarer geworden. Die Regierung habe jedoch bereits 2017 das Wort „Krise“ de facto verboten und Analysen, die auf diese Krise hinwiesen, als „in niederer Absicht gesprochene Worte“ verdammt.
Mittlerweile ist es soweit, dass selbst Minister eine Krise einräumen. Tunç sagt dazu: „Das liegt daran, dass die Krise nicht mehr zu negieren ist. Denn der Wechselkurs, die Arbeitslosenzahlen, die Auslandsverschuldung und die makroökonomischen Daten zeigen allesamt, dass die Regierung nicht mehr in der Lage ist, die Krise zu verbergen. Sie kann nur noch über die Medien versuchen, davon abzulenken. Mit der Kriegspolitik in Libyen und Syrien und der Eskalation im östlichen Mittelmeer soll die Krise verschleiert werden.“
Produktion und Beschäftigung nehmen ab
Ramazan Tunç weist darauf hin, dass seit Beginn der Wirtschaftskrise insbesondere die Menschen im Niedriglohnsektor betroffen sind: „Ihr Lohn wird der Inflation geopfert. Acht Millionen Menschen, die sich im unbezahlten Urlaub befinden, sind eigentlich arbeitslos. Die Entwicklungen in der Außenpolitik stellen Bemühungen dar, die durch die falsche Wirtschaftspolitik der Regierung hervorgerufene Krise zu verbergen. Auch die kurdische Frage muss im Zusammenhang mit der Wirtschaftspolitik bewertet werden.
Wir sehen, dass die Regierung die kurdische Frage mit einer auf Sicherheitspolitik, Gewalt und Krieg basierenden Politik zu lösen versucht. Dabei wird eine Klasse von Kriegsprofiteuren genährt. Denn durch die Kriegspolitik fließen Milliarden Dollar in die Rüstungsindustrie. So führte der blitzartige Abbruch der Imrali-Gespräche zu einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts der Türkei um 250 Milliarden Dollar. Wenn man die kurdische Frage mit Kriegs- und Sicherheitspolitik angeht, dann entstehen auch entsprechende Kosten. Diese Kosten bedeuten ein Schrumpfen der Wirtschaft, der Beschäftigung und der Produktion.“
Sich mit Gewalt und Krieg über den Tag retten
Der durch die Corona-Pandemie verursachte ökonomische Engpass solle nun mit Kriegspolitik überwunden werden, sagt Tunç und fährt fort: „Das beste Beispiel dafür ist die Truppenkonzentration in Südkurdistan. Die aktuelle Regierung bezweckt damit eigentlich zwei Dinge. Erstens soll das Militär mit dem Krieg beschäftigt und seine Kapazität, bei Krisen im Inland zu intervenieren, reduziert werden. Zweitens soll die Krise durch den Krieg von der Agenda verdrängt werden. Der aktuell von der Regierung umgesetzte Sicherheitsansatz zielt darauf ab, die Gesellschaft zu unterwerfen und Polizei- und Militärgewalt zu legitimieren. Dem zu Grunde liegt der ökonomische Druck. Dieser Druck wirkt gleichzeitig auch auf die Regierung. Deshalb versucht die Regierung, sich mit Krieg und Gewalt über den Tag zu retten. Das Beharren auf einem totalitären Regime wird jedoch nichts nützen. Im Gegenteil, der einzige Ausweg liegt in der demokratischen Lösung von Problemen wie der kurdischen Frage.“
430 Milliarden Dollar Auslandsverschuldung
Zur Auslandsverschuldung der Türkei erklärt Tunç: „Das Bruttoinlandsprodukt der Türkei ist in den vergangenen fünf Jahren immer weiter geschrumpft. Es ist von 950 Milliarden Dollar abgesunken und geht der Marke von 680 Milliarden Dollar entgegen. Wenn wir uns die Bilanzen der Zentralbank und die Kreditstatistiken ansehen, können wir feststellen, dass die Türkei mehr als 430 Milliarden Auslandsschulden hat. Davon sind 277 Milliarden Dollar Schulden, die in weniger als einem Jahr beglichen werden müssen. Es gibt auch 22 Milliarden Dollar an Geldern aus unklaren Quellen.
Einerseits werden sowohl Einzelpersonen als auch Institutionen für Devisen beliehen, andererseits wird versucht, mit diesem Geld den inländischen Markt zu stabilisieren. Die schwarzen Löcher, die durch die Sicherheitspolitik entstanden sind, müssen schnellstmöglich geschlossen werden. Aber wie soll die Regierung innerhalb eines Jahres einen Kredit von 277 Milliarden Dollar finanzieren? Die Reserven der Zentralbank liegen bei etwa 40 Milliarden Dollar. Wenn man Einnahmen und Ausgaben vergleicht, dann gibt es eigentlich sogar ein Defizit von mehr als 40 Milliarden US-Dollar. Die Wirtschaftspolitik dieser Regierung ist also alles andere als nachhaltig."