Am heutigen Dienstag, dem 7. Dezember 2021, wurde im Prozess gegen die Hamburger IS-Rückkehrerin Daniela G. das Urteil verkündet. Die 24-Jährige wurde in zwei Fällen wegen Mitgliedschaft nach §129a und b angeklagt. Ihr wird also vorgeworfen, Mitglied einer im Ausland bestehenden terroristischen Vereinigung – dem sogenannten Islamischen Staat (IS) – gewesen zu sein und sich an dessen Zielen beteiligt zu haben. Daniela G. hielt sich zwischen 2014 und 2019 in den IS-Gebieten in Syrien auf. Sie soll sich gemeinsam mit ihrem nach islamischen Recht angetrauten Ehemann dem sogenannten Kalifat angeschlossen haben, nachdem sie sich bereits in Hamburg-Billstedt im Umfeld der Ibrahim-Khalil-Moschee radikalisiert hatte. 2019 kam sie in das Camp Hol der kurdischen Anti-IS-Kräfte, aus welchem sie 2020 floh und über die Türkei nach Deutschland zurückgeführt wurde. Seitdem lebt sie mit ihren in Syrien geborenen Kindern wieder in Hamburg. Noch bis heute hat die Angeklagte Kontakt zu Salafist:innen und erhält Unterstützung der aktiven islamistischen Netzwerke in Deutschland, führt sie doch seit ihrer Rückkehr eine Beziehung mit Joshua S., einem radikalisierten Konvertiten, welcher in der mittlerweile verbotenen Berliner Vereinigung „Jama’atu Berlin“ alias „Tauhid Berlin" aktiv ist.
Zwei Jahre und neun Monate Jugendstrafe
In der Urteilsverkündung heißt es, dass sie sie in zwei Fällen wegen Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung im Ausland verurteilt wurde. Sie erhält zwei Jahre und neun Monate Jugendstrafe. Die Kosten des Verfahrens muss sie nicht tragen. Zur Begründung heißt es, dass es keine Distanzierung vom IS gab und sie auch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland weiterhin ihre Kinder im Sinne der IS-Ideologie erzog.
Auch dieser Prozess wurde von einer feministischen Prozessbeobachtungsgruppe begleitet. In einer Stellungnahme zum Prozessende weist die Gruppe auf drei wichtige Aspekte dieses und weiterer Prozesse gegen IS-Rückkehrer:innen hin.
Neubewertung der Rolle von Frauen im „Islamischen Staat“
Zum einen müsse die Sonderrolle von Frauen im „Islamischen Staat“ neu bewertet werden. Auch in diesem Prozess sei deutlich geworden, wie stark Frauen mitunter in das System des sogenannten Islamischen Staates eingebunden waren. „Rückkehrer:innen skizzieren dennoch nach wie vor in Vernehmungen das Bild unschuldiger Ehefrauen, so auch Daniela G. Einer verharmlosenden Haltung der deutschen Justiz gegenüber dieser besonderen Rolle und der begangenen Verbrechen muss demnach entgegengetreten werden. Gerade die reproduktiven Tätigkeiten stützten weiterhin das System des IS”, so die Prozessbeobachtungsgruppe. Des weiteren würden Frauen zentrale Funktionen wie Netzwerkarbeit erfüllen, vielfältige Aufgaben in der geschlechtergetrennten Verwaltung übernehmen, insbesondere im internationalen Zusammenhang für die Verbreitung der IS-Ideologie sorgen, sowie Spenden sammeln und weitere Anhänger:innen anwerben. Das lasse sich gut an der Tätigkeit von Daniela G. darlegen, machte sie doch über soziale Medien Werbung dafür, ins IS-Gebiet auszureisen, und sammelte noch vor ihrer Ausreise Spenden.
Weiter verweist die Gruppe auf die Situation der Kinder der Verurteilten. Ihre zwei Söhne sind im IS-Gebiet geboren, aktuell ist sie erneut schwanger, mutmaßlich von ihrem zweiten, nach islamischen Recht angetrauten Ehemann Joshua S., der bereits erwähnte überzeugte Salafist.
Nach Ansicht des Senats besteht auch weiterhin eine Betätigungshandlung in der Erziehung ihrer Kinder. Es müsse also dafür gesorgt werden, dass diese die Chance erhalten, selbstbestimmt über Leben und Glauben zu entscheiden und nicht der Indoktrination von weiterer IS-Ideologie ausgesetzt sind. Die Sozialisierung im IS-Gebiet dürfte für nachhaltige Schäden des Kindeswohles gesorgt haben. Deshalb liegt eine weitere Forderung darin, die Kinder zu schützen – etwa indem die Erziehungsfähigkeit der Angeklagten infrage gestellt und für professionelle Hilfe gesorgt wird, um eine (Re-)Sozialisierung in die demokratische Gesellschaft zu ermöglichen.
Aufklärung von Fällen verschleppter Ezid:innen muss zentrales Ziel sein
Zum anderen müsse die Aufklärung aller Fälle von verschleppten Ezid:innen durch die Überfälle des IS in Zusammenarbeit mit Akteur:innen vor Ort zum zentralen Ziel weiterer IS-Prozesse werden. So heißt es in der Stellungnahme der feministischen Prozessbeobachtungsgruppe: „Die national geführten IS-Prozesse stehen im globalen Zusammenhang. Obwohl die deutschen IS-Anhänger:innen ihre Taten in einer Kriegssituation im Ausland begingen, werden die laufenden IS-Prozesse mehrheitlich als Einzelfälle betrachtet und die Ermittlungen nicht in ein Gesamtkonzept zur Aufarbeitung des Feminizids und Genozids an den Ezid:innen eingebunden. Eine stichhaltige Beweislage für solche Prozesse könnte durch die enge Zusammenarbeit mit Überlebenden- und Betroffenenintiativen verbessert werden. Neben der verbesserten Beweisaufnahme besteht die Möglichkeit, dass durch die Aufklärung der teilweise immer noch aktiven Täter:innen-Netzwerke die internationale Gerichtsbarkeit der begangenen Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erleichtert, Gerechtigkeit für Überlebende hergestellt sowie dem wiederholten Erstarken des IS vorgebeugt werden kann.“
Dass diesem auch anders Rechnung getragen werden kann, zeige sich zuletzt im IS-Prozess in Frankfurt, bei welchem der Angeklagte des Völkermordes und eines Kriegsverbrechens mit Todesfolge schuldig gesprochen wurde, so die Gruppe. Auch in dieser Urteilsverkündung wurde der Genozid an den Ezid:innen erwähnt. Diese Gräueltaten des IS seien bekannt gewesen, ereigneten sie sich doch im August 2014, also einen Monat vor der Ausreise der Angeklagten nach Syrien.
Gefordert wird, in künftigen Prozessen die Perspektive der Ezid:innen von Beginn an stärker mit einzubeziehen, verübte der IS doch systematisch einen Genozid und Feminizid an den Ezid:innen in Şengal (Irak). Mehr als 400.000 Ezid:innen haben alles verloren. Es gibt unzählige Berichte von den Überlebenden, die über ihre Versklavungen und Misshandlungen berichten. Um Gerechtigkeit herzustellen bedarf es einer ganzheitlichen Aufklärung und Aufarbeitung dieser Verbrechen.
Anklagen müssen Völkerrecht und Menschenrechtskonvention beinhalten
Zuletzt verweist die Gruppe auf die Perspektive von hybriden Gerichtshöfen: „Die in den Prozessen gegen die Verbrechen des IS häufig herangezogenen Antiterrorgesetze führen mehrheitlich zu sogenannten Schauprozessen und verfehlen den Gegenstand der Strafverfolgung. Die im Fokus stehende Ideologie wird pauschal bestraft, während die konkreten Taten unaufgeklärt bleiben. So können aufgrund der rechtlichen Grundlage der Anklage manche Straftaten nicht verfolgt werden. Darüber hinaus greifen einige Herkunftsländer aufgrund fehlender Ressourcen und mangelnder Rechtsstaatlichkeit auf menschenrechtswidrige Praxen wie Folter und Todesurteile zurück. Expert:innen wie Andrew Solis haben hergeleitet, dass ein sogenannter hybrider Gerichtshof eine pragmatische Lösung wäre, um internationale und nationale Komponenten von Prozessführung miteinander zu verbinden. Durch Zusammenarbeit lokaler und internationaler Akteure kann Finanzierbarkeit und Einhaltung der Menschenrechte gewährleistet werden, während die Beweisaufnahme und Aufklärung gegebenenfalls gegen den Willen staatlicher Lokalakteure durchgesetzt werden kann. Beispielsweise könnte die Rolle des türkischen Staates aufgeklärt werden, welcher eine bedeutende Funktion in der logistischen Unterstützung des IS erfüllte, wie es sich nun in mehreren IS-Prozessen bestätigt hat.”
Rund 1050 Männer und Frauen versuchten seit 2012 aus Deutschland in syrische oder irakische Kriegsgebiete auszureisen. Aktuell befinden sich noch mehr als 110 Erwachsene und etwa 100 Kinder mit sogenanntem Deutschlandbezug im einstigen IS-Gebiet.
Kommende Prozesse und der Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit
Es werden noch viele Prozesse künftig anstehen. Deshalb ruft die Gruppe die Öffentlichkeit weiterhin dazu auf, in die Prozesse zu gehen und diese zu beobachten. Die Prozessführung gegen Europäer:innen, die sich dschihadistischen Gruppen wie dem IS angeschlossen haben, ist historisch bedeutsam und bedarf dringend Beobachtung und Dokumentation, um für vollständige und lückenlose Aufklärung sowie Gerechtigkeit einstehen und kämpfen zu können. Die feministische Prozessbeobachtungsstruktur freut sich über solidarische Unterstützung von weiteren Personen für kommende Prozesse. Bei Interesse und Rückfragen kann unter [email protected] Kontakt aufgenommen werden.