Die ehemalige Ko-Vorsitzende der DBP und prominente kurdische Politikerin, Sebahat Tuncel, nutzte die Gelegenheit einer Stellungnahme im Kobanê-Verfahren in Ankara, in dem sie angeklagt ist, um eine politische Analyse und ein Statement abzugeben. Sie kritisierte das Verfahren als ein vom türkischen Regime orchestriertes, politisches Vorgehen, bei dem alle als PKK-Mitglieder verurteilt werden sollen.
„Wenn es heute eine Türkei gibt, dann ist das auch Ergebnis des Kampfes des kurdischen Volkes“
Unter anderem sind die Politiker:innen wegen „Separatismus“ angeklagt. Der Staatsanwalt Cemalettin Şimşek lieferte ein Beispiel für die Assimilations- und Verleugnungspolitik gegenüber Kurd:innen, indem er im Verfahren immer wieder von einem „imaginären Kurdistan“ und den Kurd:innen als einem „sogenannten Volk“ sprach. Tuncel sagte in Bezug darauf in ihrer Prozesserklärung: „Wenn wir, wie es in der Anklage steht, das Land teilen wollten, warum sollten wir dann ein ‚imaginäres Kurdistan‘ errichten? Wir wären hingegangen und hätten das echte Kurdistan errichtet. Der Staatsanwalt und diejenigen, die das Abschlussplädoyer erstellt haben, urteilen über die HDP und ihre institutionellen Strukturen. Das Problem der Demokratie kann nicht gelöst werden, ohne die kurdische Frage zu lösen. Die Forderung des kurdischen Volkes, seine Existenz zu schützen und seine Zukunft zu sichern, wird als Separatismus abgestempelt, aber wenn es heute ein Land namens Türkei gibt, dann ist es das Ergebnis des Kampfes des kurdischen Volkes.“ Sie spielt damit unter anderem auf die Rolle der Kurd:innen im Befreiungskrieg (1919–1923) an. Mustafa Kemal hatte den Kurd:innen Autonomie versprochen, um sich ihre Kampfkraft zunutze zu machen. Nach der Errichtung der Republik Türkei leitete Kemal jedoch eine Vernichtungspolitik ein, die bereits in den ersten Jahren des türkischen Staates hunderttausenden Kurd:innen das Leben kostete und bis heute anhält.
„Der Nationalstaat ist eine Sackgasse“
Tuncel betonte, dass man die Frage nach dem Ausbleiben einer Lösung für die kurdische Frage nur mit Blick auf das staatliche Modell und insbesondere auf das nationalstaatliche System beantworten könne. Sie fuhr in ihrer Prozesserklärung fort: „Es ist für uns heute im 21. Jahrhundert inakzeptabel, dass die kurdische Sprache und Kultur immer noch verboten und justiziabel sind. Aber wir kennen den Grund. Um den Vorwurf der Störung der ‚Einheit und Integrität des Staates‘, der uns heute gemacht wird, zu verstehen, müssen wir das Konzept des Staates betrachten. Das türkisch-nationalistische Konzept wurde der Gesellschaft später aufgezwungen. Zur Staatsideologie gehört es, sich Feinde zu schaffen, für das eigene Fortbestehen alle Identitäten zu verleugnen und eine Politik der Unterdrückung, Gewalt und Verfolgung zu legitimieren. Das kapitalistische System hat den modernen Nationalstaat geschaffen, indem es sich nicht nur auf Menschen bezieht, sondern auch Herkunft und Geschichte konstruiert. So wurden, wenn wir es globalhistorisch betrachten, die religiös begründeten Spaltungen der Gesellschaften im 19. Jahrhundert in national begründete Spaltungen transformiert. Mit der in Staaten gegliederten Welt haben Völkermord und Vernichtung begonnen.“
„Das kurdische Volk wurde der Konstruktion der türkischen Identität geopfert“
Unterschiedlichkeiten wolle der Nationalstaat vernichten, erläuterte Tuncel und fuhr fort: „Der moderne Rassismus entspringt dem Nationalismus. Er ist sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet, genau wie die kurdische Frage. Der Nationalstaat wurde durch die Ausgrenzung und Marginalisierung des Anderen geschaffen. Er wurde den Gesellschaften aufgezwungen und hat großes Leid verursacht, da er kulturelle Assimilierung mit sich brachte. Minderheitengruppen wurden assimiliert. Die Geschichte der staatlichen Gesellschaft ist auch die Geschichte der Klassengesellschaft. Der Nationalstaat gründete sich auf die Usurpation der geistigen und materiellen Kultur und erklärte dem gesamten gesellschaftlichen Erbe den Krieg. Alles, was an Identität, Kultur und Sprache existierte, wurde in diesem Prozess zu zerstören versucht. Heute wurde die Existenz des kurdischen Volkes der türkischen Identität geopfert. Die Kurd:innen jedoch kennen die Realität des Nationalstaates sehr gut. Heute ist dieses System nicht nur für Menschen in der Türkei, sondern auch weltweit zu einer Geißel geworden; es ist die Ursache für Kriege, Raub und Chaos im Nahen Osten.
„Das demokratisch-freiheitliche Paradigma ist die Alternative“
Die alternative Lösung zu diesem nationalstaatlichen System ist der Aufbau eines demokratischen, freiheitlichen Paradigmas, in dem jede Identität ihre eigene Existenz schützt. Aus diesem Grund werden Selbstverwaltung und demokratische Autonomie das System sein, über das in den kommenden Perioden am meisten gesprochen wird. Obwohl die Türkei das Reden darüber kriminalisiert, sprechen die demokratischen Staaten bereits über dieses System. Das Modell des Nationalstaats ist ein Modell, das Probleme schafft, anstatt sie zu lösen. Es hat keine Lösung für die Forderungen der Frauen nach Freiheit, Gleichheit und Gleichberechtigung, die nationalstaatlichen Regierungen unterdrücken jeden, der diese Forderungen stellt. Da das demokratische Staatssystem die Unterschiedlichkeiten zusammenbringt und sie vereint, bietet es das beste System für Gesellschaften, die nach Gleichheit und Freiheit streben, bis etwas Besseres gefunden wird. Die Probleme im Nahen Osten können nicht gelöst werden, ohne das Freiheitsproblem des kurdischen Volkes zu lösen.“
„Die kurdische Frage ist politisch“
Tuncel fuhr fort: „Die Freiheitsfrage für das kurdische Volk ist politisch und muss auf diese Weise gelöst werden. Sie kann nicht dadurch gelöst werden, dass man kurdische Politiker:innen in Gerichtssäle steckt und sie zu hohen Strafen verurteilt. Es ist auch unmöglich, eine Lösung zu entwickeln, ohne die Ursachen des Problems zu verstehen.“
„Die Verbrechen am kurdischen Volk werden eines Tages vor Gericht gebracht werden“
Tuncel erklärte, dass die Existenz Kurdistans historisch unzählige Male belegt sei und dass sogar Mustafa Kemal in seinen Aufzeichnungen häufig das Wort Kurdistan verwendet habe, dass man nun aber versuche, dies aus der Geschichte zu tilgen. Tuncel zitierte in ihrer Erklärung aus dem Reformplan Ost, einem Dokument, das Massaker und Assimilierungskampagnen gegen die kurdische Bevölkerung einleitete, und sprach über ein ähnliche Geheimdokument aus dem Jahr 2014 den sogenannten Niederwerfungsplan, in dem bereits ein Großangriff auf die kurdische Gesellschaft vorbereitet wurde, während auf der anderen Seite vom Staat vorgeblich Friedensgespräche geführt wurden. Sie fuhr fort: „Mit diesen Plänen wurde das Militär beauftragt, die kurdische Identität auf vielen Wegen zu vernichten. So wurde im Rahmen des Reformplans Ost die Verwendung selbst eines einzigen kurdischen Buchstabens (qwx existieren im türkisch-lateinischen Alphabet nicht; ihre Verwendung wurde immer wieder in der Türkei kriminalisiert) oder kurdischen Satzes oder die Benennung der kurdischen Realität und Identität verboten. Ein Jahrhundert nach diesem Plan wurde 2014 der Niederwerfungsplan in Kraft gesetzt. Dieses 43-seitige Geheimdokument unterscheidet sich kaum von seinem hundertjährigen Vorgänger. Dieses Dokument fällt in die Zeit des vorgeblichen Lösungsprozesses. Das Staatssekretariat, das angeblich an der Lösung beteiligt war, war gleichzeitig in die Entstehung dieses Plans eingebunden. Gibt es einen Unterschied zwischen diesem Niederwerfungsplan und dem Abschlussplädoyer, das gegen uns vorbereitet wurde? Nein. Die Menschen in der Türkei hatten nicht einmal Kenntnis von diesen Plänen der Regierung. Wer trifft diese Entscheidung in ihrem Namen? Wer gibt den Machthabern dieses Recht! Als wir nach diesem Plan gefragt haben, hat der Staat nicht dementiert, und nicht dementieren bedeutet, etwas einzuräumen. All dies ist eine Politik der Verleugnung, Ausrottung und Assimilation. Es handelt sich um ein Verbrechen an den Kurd:innen; und 100 Jahre sind vergangen, und es sind immer noch die Kurd:innen, die verurteilt und verfolgt werden. Die Türkei geht mit diesem Plan und Programm in ihr zweites Jahrhundert. Diejenigen, die all diese Pläne und Assimilationspolitik umsetzen, werden eines Tages verurteilt werden. Diese Verbrechen gegen das kurdische Volk werden ans Licht gebracht, und es wird echte Rechenschaft dafür abgelegt werden.“
„Alle Aufstände sind das Ergebnis einer Staatspolitik“
Unter Bezugnahme auf das Buch des 1993 ermordeten Journalisten Uğur Mumcu über die kurdischen Aufstände erklärte Tuncel, dass die Kurd:innen die ihnen gegenüber gebrochenen Versprechen niemals akzeptiert haben. Zu den aus staatlichen Quellen beschriebenen Aufständen sagte Tuncel: „Es ist offensichtlich, dass die Kurd:innen darauf bestehen, sich um ihre eigene Sprache und Kultur herum zu organisieren, und dass sie gegen Assimilation kämpfen. Im Laufe der Geschichte wurden die Aufstände nicht von den Kurden verursacht, sondern waren eine Folge der Assimilations- und Vernichtungspolitik des Staates. Fetih Okyar, ein enger Freund von Mustafa Kemal, wurde seines Amtes als Ministerpräsident enthoben, weil er sagte: ‚Ich werde mir nicht die Hände mit kurdischem Blut schmutzig machen.‘“ Tuncel betonte, dass die Zusammenarbeit und der Einfluss der internationalen Mächte bei all diesen Verbrechen nicht vergessen werden dürfen, und sprach über die Angriffe auf die nationale Existenz und Einheit der Kurd:innen in allen Teilen Kurdistans.
„Der Kampf um Existenz und Freiheit muss Hand in Hand fortschreiten“
Tuncel stellte fest, dass die Eröffnung dieses Verfahrens sechs Jahre nach Kobanê ein Spiegelbild der antikurdischen Politik sei und schloss ihre Erklärung wie folgt: „Tayyip Erdoğan fordert, dass Israel sich aus den palästinensischen Gebieten zurückziehen solle. Ja, das sagen wir auch. Aber er selbst macht das Gleiche. Das kurdische Volk und die arabischen Völker billigen die Präsenz der Türkei in Efrîn nicht. Aber er verschwindet nicht von dort. Wenn er aufrichtig wäre, sollte er das auch mit sich selbst sein. Er sollte sich für den Frieden einsetzen und nicht für seine eigenen Machtinteressen. Die Türkei betreibt ihre Innen- als auch ihre Außenpolitik auf der Grundlage der Kurdenfeindschaft, und das ist der Grund, warum dieses Verfahren nach sechs Jahren eröffnet wurde. Das historische Komplott wird heute von der AKP fortgesetzt. Verleugnung und Ausrottung werden in der Überzeugung betrieben, dass diejenigen, die nicht mehr existieren, keine Gleichheit und Freiheit fordern können. Das Hauptproblem derjenigen, deren Existenz nicht anerkannt wird, ist diese Frage. Der Kampf um Existenz und Freiheit muss Hand in Hand gehen. Jüd:innen wurden in der Vergangenheit einem physischen Genozid unterworfen. Was die Kurd:innen heute erleben, ist ein kultureller Genozid. Obwohl sich die antikurdische Politik im Kern nicht geändert hat.“
Das Kobanê-Verfahren
Im Kobanê-Verfahren sind 108 Personen, darunter fast der gesamte ehemalige Parteivorstand der HDP/DBP, wegen des Aufrufs zur Verteidigung von Kobanê gegen den „Islamischen Staat“ im Jahr 2014 angeklagt. Momentan befinden sich 18 Angeklagte im Gefängnis. Aufgrund der Unterstützung des türkischen Staates für den IS kam es damals zu einem Aufstand. Im Zuge des Aufstands kam es in vielen Städten in der Türkei zu Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hizbullah und den Demonstrant:innen. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht von 37 Toten. Nun werden die Getöteten, vorwiegend von Sicherheitskräften und Islamisten ermordete Protestierende, den Angeklagten zu Last gelegt. Hinzu kommen entsprechende Separatismusvorwürfe. Den Angeklagten drohen Haftstrafen von teilweise mehreren tausend Jahren.