Todesstrafe gegen Aktivisten: Familien appellieren an Barzanî

Ein Berufungsgericht in Hewlêr hat die Todesurteile wegen der Ermordung eines türkischen MIT-Verantwortlichen gegen zwei kurdische Aktivisten bestätigt. Ihre Familien appellieren nun an Nêçîrvan Barzanî, die Hinrichtungsverfügung nicht zu unterschreiben.

Die Familien der in Hewlêr zum Tode verurteilten kurdischen Aktivisten Mazlum Dağ und Abdurrahman Er (auch bekannt unter dem Namen Muhammed Beşiksiz) haben an Südkurdistans Präsidenten Nêçîrvan Barzanî appelliert, die Todesurteile nicht zu bestätigen. Es wäre „mehr als tragisch“, wenn zwei kurdische junge Männer durch die Hand Kurdistans an den Strang kämen, heißt es in einem von Necmettin Er, einem in der Schweiz lebenden Onkel von Abdurrahman Er, an Barzanî verfassten offenen Brief. Dağ und Er waren am 11. Februar von einem Strafgericht in Hewlêr zum Tode verurteilt worden. Die beiden Aktivisten werden beschuldigt, am 17. Juli 2019 den türkischen Vizekonsul und Geheimdienstverantwortlichen Osman Köse sowie zwei weitere Personen in einem Luxusrestaurant in Hewlêr erschossen zu haben. Vier weitere Angeklagte erhielten Haftstrafen von bis zu zwei Jahren. Am 22. September wurden die Urteile vom Kassationsgericht bestätigt. Laut Gesetzgebung in der südkurdischen Autonomieregion muss die Hinrichtungsverfügung vom Präsidenten unterzeichnet werden. Das letzte Wort hat also Barzanî:

„Die moderne Gesetzgebung und rechtstaatliche Demokratien lehnen die Todesstrafe entschieden ab. Die meisten Länder haben die Todesstrafe bereits per Gesetz abgeschafft. Dass diese Form der Bestrafung in der Region Kurdistan noch immer praktiziert wird und nun einen unserer Angehörigen direkt betrifft, hat uns zutiefst beunruhigt. Wir sind patriotische Familien, die einen hohen Preis für die kurdische Sache bezahlt haben – einige von uns sogar mit ihrem Leben. Zu einer Zeit, in der überall Kampagnen für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe durchgeführt werden, fällt es uns schwer zu verstehen, dass in Kurdistan zwei junge kurdische Menschen zum Tode verurteilt werden. Wir bedauern diesen Umstand zutiefst.

„Methode zur Verteidigung der Rechte des kurdischen Volkes“

Diese jungen Menschen, die an den Galgen sollen, sind Personen, die in einer staatlich verordneten repressiven Atmosphäre aufgewachsen sind und die brutalen Methoden in Kurdistan am eigenen Leib erfahren haben. Gleichzeitig handelt es sich bei ihnen um Menschen, die jede Art von Widerstand gegen diese Unterdrückung geleistet haben. Wir brauchen Sie nicht über die brutale Politik des türkischen Staates in Kurdistan und den Massakern an Kurden aufklären. Diese beiden Menschen lehnten sich gegen all das auf, was der türkische Staat uns und unserem Volk angetan hat. Ob der Zeitpunkt richtig gewählt war, wir die Tat in Hewlêr nun billigen und anerkennen oder nicht, spielt keine Rolle. In der Person des MIT-Beamten als Leiter von Operationen war das Ziel der türkische Staat.

Mit Blick auf die unmenschlichen Angriffe des türkischen Staates gegen unser Volk handelt es sich unserer Auffassung nach bei dem Vorfall in Hewlêr nicht um ein Ereignis, das mit der Todesstrafe gesühnt werden sollte. Diese beiden jungen Menschen gaben an, sich an der Tat als eine Methode zur Verteidigung der Rechte des kurdischen Volkes beteiligt zu haben. Zweifelsfrei fanden auch wir es nicht richtig, dass sie in einen Vorfall verwickelt waren, der mit dem Tod endete. Wir wissen, dass es andere Wege gibt, Rechte einzufordern, für die wir uns aussprechen. Aber die Strafe für diese Tat kann und sollte nicht der Tod sein. Dass das Todesurteil von einem Gericht in der Region Kurdistan ausgesprochen wurde, ist mehr als tragisch. Der Gedanke daran erschüttert uns sehr.

Beispiel armenischer Genozid und Soghomon Tehlirian

Diese jungen Leute sind Freiheitskämpfer. Die patriotische kurdische Gesellschaft nimmt sie als solche wahr. Es ist bedauerlich, dass ein kurdisches Gericht diejenigen, die sich der kurdischen Sache verschrieben haben, zum Tode verurteilt. Diese Tatsache kann nicht akzeptiert werden. Es existieren zahlreiche vergleichbare Beispiele, sowohl in unserer Region als auch in anderen Teilen der Welt. So hat das Osmanische Reich 1915 schwere Massaker und einen Genozid am armenischen Volk verübt. Innenminister Talat Pascha, einer der Verantwortlichen des Genozids an den Armeniern, floh nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin. Dort wurde er am 15. März 1921 von einem armenischen Militanten (Soghomon Tehlirian) getötet. Im folgenden Prozess in Berlin sprach ein Gericht Tehlirian als „nicht schuldig“ frei, weil das armenische Volk großen Leiden ausgesetzt worden war.

Nun liegt es an Ihnen, Herr Präsident, ob die Todesurteile gegen Mazlum Dağ und Abdurrahman Er aufrecht erhalten oder aufgehoben werden. Wir appellieren an Sie, die Entscheidung des Gerichts nicht zu bestätigen. Als Präsident der Region Kurdistans liegt es an Ihnen, die Hinrichtung zweier Kurden durch die Hand von Kurden wegen einer Tat, zu der das kurdische Nationalgefühl verleitete, zu verhindern. Sollten die Urteile vollstreckt werden, wird dies den Glauben der kurdischen Gesellschaft an Gerechtigkeit brechen und ihr Nationalgefühl verletzen. Wir haben die feste Hoffnung, dass Sie die erforderlichen Maßnahmen ergreifen und die Todesurteile aufheben, um einen Bruch unserer Geschwisterlichkeit zu verhindern.

Auch zahlreiche zivilgesellschaftliche Einrichtungen und Menschenrechtsorganisationen sowie bekannte Persönlichkeiten unterstützen unseren Aufruf und sind in Solidarität mit uns, den betroffenen Familien. Sie fordern ebenfalls, dass die Todesstrafe in der Kurdistan-Region abgeschafft wird.“

Mord an Köse Vorwand für Mexmûr-Embargo

Die Verantwortlichen der südkurdischen Regierungspartei PDK (Demokratische Partei Kurdistans) hatten nur wenige Stunden nach der Tötung des türkischen Geheimdienstverantwortlichen Osman Köse den Mord zum Vorwand genommen, gegen das selbstverwaltete Flüchtlingslager Mexmûr eine umfassende Blockade zu verhängen. Nur einen Tag später, am 18. Juli 2019, wurde das Camp von der türkischen Luftwaffe bombardiert, zwei Personen wurden verletzt. Seit inzwischen mehr als fünfzehn Monaten sind die rund 13.000 Einwohner*innen von der Außenwelt abgeschnitten. Sie sind einer Kollektivbestrafung ausgesetzt, obwohl keine Belege und Beweise über eine Beteiligung eines oder mehrerer Menschen aus Mexmûr an der Tötung von Köse vorliegen. Doch ein Ende der Blockade ist weiterhin nicht in Sicht.