Sternmarsch nach Gemlik

Kurdische Parteien und NGOs wollen am Sonntag einen Sternmarsch nach Gemlik durchführen. In der Hafenstadt bei Bursa verkehren Schiffe zur Gefängnisinsel Imrali, wo Abdullah Öcalan festgehalten wird.

Die Türkei ist gefangen in einer Spirale multipler Krisen und durchlebt sozial, politisch, wirtschaftlich und kulturell die konfliktreichste Phase in ihrer Geschichte. Die Regierung versucht das Dilemma mit der globalen Existenzkrise des Kapitalismus zu übertünchen und steuert das Land von einem Tiefpunkt zum nächsten. Für die kurdische Gesellschaft bedeutet die in Ankara herrschende Politik der Lösungsverweigerung eine Verschärfung der seit Gründung der Republik gültigen Kriegssituation in Kurdistan. Die ungelöste kurdische Frage wird als eine der Hauptursachen für die Systemkrise in der Türkei und die Institutionalisierung der Konfliktbereitschaft angesehen. Als Ausgangsbasis der Entwicklungen im Land gilt das eigens für Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali installierte Ausnahmezustandsregime, das sich als Maßnahme mit normativem Charakter auf alle Bereiche des Lebens auswirkt. Das „Imrali-System“ hat eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung und Umsetzung der nationalen Gesetze: Eingeschränkte bis teils nicht mehr existente Grundrechte, die Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit und politischen Freiheiten sowie Kriege und Krisen sind die Folgen dieses Systems, die sich von Imrali aus wie ein Wundbrand auf die gesamte Gesellschaft und darüber hinaus ausbreiten.

Dabei ist Öcalan, Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung, der einzige Akteur mit einem Lösungsplan für die vielfältigen Krisen in der Türkei sowie im Nahen Osten. Er versteht sich als Architekt für Freiheit und Frieden, sein Name steht hinter einer politischen und demokratischen Lösung der kurdischen Frage und der Idee einer gleichberechtigten Koexistenz aller Völker in der Region. Das dürfte der Grund dafür sein, warum er mehr als 23 Jahre nach seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenia weiterhin unmenschlichen Haftbedingungen unterworfen wird und sich darüber hinaus in Totalisolation befindet. Um der Öffentlichkeit und politischen Führung der Türkei aufzuzeigen, dass Imrali die richtige Adresse für die Lösung der Probleme und Frieden ist, wollen kurdische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen am morgigen Sonntag einen Sternmarsch nach Gemlik durchführen. Von der Hafenstadt in der Provinz Bursa verkehren Schiffe zur Gefängnisinsel, wo Öcalan mit drei weiteren kurdischen Gefangenen einsitzt. Die Losung der Demonstration lautet: „Für die Verteidigung von Freiheit und gegen die Politik der Isolation – Marsch nach Gemlik“.

Die ausrichtenden Organisationen des Sternmarschs sind der Demokratische Kongress der Völker (HDK), die Bewegung freier Frauen (TJA), die Gefangenenhilfe MED TUHAD-FED, die aus dem HDK hervorgegangene Demokratische Partei der Völker (HDP) und die Partei der demokratischen Regionen (DBP). Sie fordern einen „demokratischen und zivilisierten Schritt“ von der türkischen Regierung, um „die Mutter aller Probleme“, die kurdische Frage, im Dialog zu lösen und gesellschaftlichen Frieden zu erreichen. Unabdingbar dafür sei die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan und die Rückkehr an den Verhandlungstisch mit ihm.

Es würde sich um den fünften „Großen Marsch auf Gemlik“ handeln, sofern die Demonstration stattfinden kann. Erstmals hatte die von der kurdischen Gefangenensolidarität initiierte Aktion 2005 stattgefunden. Zehntausende Menschen, die aus allen Provinzen des Landes nach Bursa strömten, waren damals aufgehalten worden, hunderte Busse wurden von Sicherheitskräften auf dem Weg zum Marsch gestoppt und zur Umkehr gezwungen. Lediglich 6.000 Menschen gelang es, die Kreisstadt Gemlik zu erreichen. Die Polizei setzte Knüppel und Tränengas gegen sie ein, es kam zu hunderten Festnahmen und Verhaftungen. Knapp 150 Demonstrierende wurden verletzt, als sie von nationalistischen Lynchmobs angegriffen wurden, die von Sicherheitskräften unterstützt worden waren. Für die nächste Auflage des Sternmarschs nach Gemlik haben sich bereits tausende Menschen, hauptsächlich aus den kurdischen Provinzen, auf den Weg nach Bursa gemacht.

Seit 15 Monaten kein Kontakt zu Öcalan

Abdullah Öcalan befindet sich seit seiner Verschleppung in die Türkei im Jahr 1999 auf der im Marmarameer gelegenen Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft. Der letzte Kontakt zu ihm war ein Telefongespräch mit seinem Bruder im März des vergangenen Jahres, das nach wenigen Minuten unterbrochen wurde. Mit seinem Rechtsbeistand von der Istanbuler Kanzlei Asrin hatte Öcalan zuletzt im August 2019 Kontakt. Nach acht Jahren Unterbrechung waren mit einem von der inzwischen wieder inhaftierten Politikerin Leyla Güven angeführten Hungerstreik insgesamt fünf Anwaltsbesuche durchgesetzt worden. Der letzte Familienbesuch auf der Insel wurde im März 2020 abgesegnet. Seine drei Mitgefangenen Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş, die 2015 im Zuge des Dialogs zwischen Öcalan und dem türkischen Staat in das Inselgefängnis verlegt worden waren, haben auf Imrali noch nie mit ihrem Rechtsbeistand sprechen können.