Als Abdullah Öcalan am 15. Februar 1999 durch eine Zusammenarbeit internationaler Geheimdienste aus Kenia in die Türkei verschleppt wurde, dachten viele, der kurdische Freiheitskampf sei am Ende. Doch Öcalan gelang es, trotz dieses herben Rückschlags aus seiner Zelle heraus die kurdische Freiheitsbewegung nach vorne zu tragen. Er nutzte seine Eingaben vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), um ein neues basisdemokratisches, geschlechterbefreites und ökologisches Paradigma zu entwerfen. Seine Ideen stehen nicht nur für die Hoffnung auf einen demokratischen Nahen Osten, sie werden gegenwärtig auch im Nordosten von Syrien und weiteren Gebieten umgesetzt.
Wichtigster Dialogpartner
Doch Abdullah Öcalan ist mehr als einer der wichtigsten politischen Gesellschaftstheoretiker unserer Zeit. Er ist auch weiterhin der zentrale politische Repräsentant der Bevölkerung in Kurdistan und somit der wohl wichtigste Dialogpartner für mögliche Verhandlungen mit dem türkischen Staat über eine Lösung der kurdischen Frage. Sein Einfluss auf die von ihm 1978 begründete PKK ist ebenso ungebrochen wie sein Rückhalt in der kurdischen Bevölkerung. Seine andauernde Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali ist Ausdruck der gegenwärtigen kurdenfeindlichen Kriegspolitik des türkischen Staates und der verweigerten Lösung der Kurdistan-Frage.
Außerhalb des Rechts gestellt
Seit knapp zwei Jahren herrscht völlige Funkstille um Öcalan. Letztmaligen Kontakt zum ihm hatte sein Bruder Mehmet im März 2021 in Form eines kurzen Telefonats, das nach wenigen Minuten wieder abgebrochen wurde. Das Anwaltsteam kann schon länger nicht mehr mit Öcalan kommunizieren. Den letzten Besuch von seinen Verteidigerinnen und Verteidigern erhielt der 73-Jährige im August 2019. Die Istanbuler Kanzlei Asrin, die Öcalan und seine drei Mitgefangenen juristisch vertritt, beschreibt diese Zustände auf Imrali als „Incommunicado“-Haft. Dabei handelt es sich um einen spanischen juristischen Terminus, der aus der Folter und Isolation von „Terrorverdächtigen“ durch Spanien stammt und mehrfach zur Verurteilung des Landes vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geführt hat. Durch die Incommunicado-Haft und des Vorenthaltens jeglicher rechtlicher Schutzmechanismen werden Öcalan und seine Mitgefangenen außerhalb des Rechts gestellt.
Zukunft der Völker mit Hypothek belastet
Die Zivilgesellschaft Nordkurdistans nimmt den bevorstehenden Jahrestag der Verschleppung Öcalans zum Anlass, mit einem Sternmarsch auf Gemlik von der Regierung einzufordern, die Menschenrechtslage auf Imrali und überall im Land zu verbessern und in einen Friedensprozess für die Lösung der kurdischen Frage überzugehen. „Solange die absolute Isolation von Abdullah Öcalan, für die es keine moralische, ethische oder juristische Begründung gibt, andauert, wird die Türkei nicht in der Lage sein, der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise zu entkommen, in der sie sich befindet. Öcalan ist der einzige Akteur mit einem Lösungsplan für die vielfältigen Probleme unserer Region. Statt eine politische und demokratische Lösung der kurdischen Frage als ein Hindernis für seine Machtpolitik zu betrachten, muss der Staat seine Schutzpflicht der Bevölkerung gegenüber erfüllen und zum Verhandlungstisch zurückkehren. Die ungelöste Kurdistan-Frage und fortgesetzte Isolation auf Imrali stärken den Teufelskreis aus Konflikten und Gewalt, aus dem wir dieses Land und den gesamten Nahost-Raum führen wollen. Denn die Leidtragenden dieser Kriegspolitik sind die Völker. Ihnen wird eine Zukunft jenseits von Krieg, in einem Umfeld des sozialen Friedens verwehrt. Ihre Existenz ist mit einer Hypothek belastet.“
Startpunkte in Qoser und Gever
Gemlik liegt in der türkischen Provinz Bursa. Von der Hafenstadt verkehren Schiffe zur Gefängnisinsel, wo Öcalan mit drei weiteren kurdischen Gefangenen einsitzt. Der Sternmarsch trägt das Motto „Für eine Lösung – wir marschieren nach Imrali“. Nach Angaben des Organisationskomitees, in dem politische Parteien und Verbände wie das Graswurzelbündnis „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD), die HDP und ihre Schwesterpartei DBP, die Frauenbewegung TJA und Vereine der Gefangenensolidarität vertreten sind, findet der Sternmarsch am 6. Februar statt. Es soll zwei Startpunkte geben: Qoser (tr. Kızıltepe) in Mêrdîn und Gever (Yüksekova) in Colemêrg. Im Laufe der Demonstration sollen Teilnehmende aus anderen Städten hinzustoßen.
Sechster „Großer Marsch auf Gemlik“
Es würde sich um den sechsten „Großen Marsch auf Gemlik“ handeln, sofern die Demonstration stattfinden kann. Erstmals hatte die von der kurdischen Gefangenensolidarität initiierte Aktion 2005 stattgefunden. Zehntausende Menschen, die aus allen Provinzen des Landes nach Bursa strömten, waren damals aufgehalten worden, hunderte Busse wurden von Sicherheitskräften auf dem Weg zum Marsch gestoppt und zur Umkehr gezwungen. Lediglich 6.000 Menschen gelang es, Gemlik zu erreichen. Die Polizei setzte Knüppel und Tränengas gegen sie ein, es kam zu hunderten Festnahmen und Verhaftungen. Knapp 150 Demonstrierende wurden verletzt, als sie von nationalistischen Lynchmobs angegriffen wurden, die von Sicherheitskräften unterstützt worden waren. Die Auflage im vergangenen Jahr war ebenfalls geprägt von Festnahmen und Gewalt. Allein in Istanbul gab es knapp hundert Festnahmen, auch wurden mehrere Teilnehmende inhaftiert. Der DBP-Vorsitzenden Saliha Aydeniz droht wegen ihrer Beteiligung sogar die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität.