Staatsterror und Widerstand in Êlih
Die DEM-Abgeordnete Ceylan Akça hat für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika die schweren Übergriffe von Paramilitärs und Polizisten auf die gegen Zwangsverwaltung protestierende Bevölkerung von Êlih beschrieben.
Die DEM-Abgeordnete Ceylan Akça hat für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika die schweren Übergriffe von Paramilitärs und Polizisten auf die gegen Zwangsverwaltung protestierende Bevölkerung von Êlih beschrieben.
Wenn ich mich erinnere, wie ein Polizeikommandeur am 5. November während der Proteste gegen Zwangsverwaltung über die mit Reizgas versetzten Wasser überschwemmten Bürgersteige der Gülistan Straße in Êlih [tr. Batman] rannte und rief „Was hat euch dieser Staat getan, Mann?“, und wenn ich mir vorstelle, dass er diese Frage in aufrichtigem Interesse gestellt hätte, dann fiele mir eine sehr lange Liste ein. Der vollkommen außer Rand und Band geratene Polizeichef war sich jedoch sicher, dass der Staat die Kurdinnen und Kurden nicht anders behandele und dass es Gleichberechtigung gäbe.
Ceylan Akça, Abgeordnete der DEM-Partei
Wer jedoch am Edip Solmaz Boulevard vorbeikommt, kurz hinter der Gülistan Straße, der wird sich sehr genau daran erinnern können, was den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der Stadt, den Vorreitern des politischen Aufbruchs hier, unter staatlicher Kontrolle angetan wurde. Den Menschen von Êlih fällt es nicht schwer, sich daran zu erinnern, was der Staat Sıddık Tan und seinen Kindern angetan hat, die 1992 im Haus seines Freundes mit den Waffen der Sicherheitskräfte ermordet wurden.1
Viele Einwohnerinnen und Einwohner von Êlih erinnerten sich an den mutigen Journalisten Cengiz Altun2, als sie sahen, wie der Journalist Veysi Akören vor einigen Tagen vor dem Gebäude des Provinzverbands der DEM-Partei von maskierten Personen, die sich als Polizisten ausgaben, festgenommen wurde. Cengiz Altun war, bevor er ermordet wurde, bereits einmal von seinen Freunden vor dem Verschwinden in Haft gerettet werden. Der Mord an ihm wurde verhindert. Cengiz hatte zuvor die Strukturen der staatlichen Todesschwadron JITEM ans Licht gebracht.
An Cengiz, Edip und Sıddık erinnern
Diejenigen, die über ein lebendiges historisches Gedächtnis verfügen, erinnerten sich an Cengiz, Edip3 und Sıddık, als sie am Tag nach der Ernennung des Zwangsverwalters wütende Männer mit grauen, marineblauen und orangefarbenen Baretts, schwarzen chirurgischen Masken und Zivilkleidung auf den Straßen sahen. Sie fragten sich: „Was wird dieser Staat diesmal mit uns machen?“ Das kommt nicht von ungefähr, denn in der Tat wurden in der jüngsten Zeit der JITEM und der Apparat des tiefen Staates in die strategische Offensive der Regierung miteinbezogen. Es handelt sich um die Version 2.0 der 1990er Jahre. Die Vergangenheit wird in die Gegenwart geholt, auch wenn sich manchmal die Namen und die Bilder ändern. Es soll das gleiche Spiel, nur mit anderen Gesichtern gespielt werden. Es ist das Spiel der Gewalt der Vollstreckungsbeamten auf den Straßen und die manchmal impliziten, oft aber auch expliziten Drohungen gegen lauten Protest. Sowohl diejenigen, die drohen, als auch diejenigen, die bedroht werden, sind mit dieser Situation vertraut.
Vermummte Bewaffnete verschleppen Menschen
Der Widerstand und Protest der Bevölkerung von Êlih geht seit dem ersten Tag ungebrochen weiter. Parolen hallen auch nachts auf den Straßen wider. Die Parolen und die Koma-Berxwedan-Lieder aus den 1990er Jahren sind besonders für Êlih und Kurdistan. Bei den Aktionen fehlt es weder an Freude, Tanz und Widerstand noch an Polizeigewalt.
Jeden Tag versammeln sich auf der Gülistan Straße Menschen, die zuvor in Demonstrationszügen aus ihren Vierteln ins Zentrum gezogen sind. Sie tanzen, rufen Parolen und fordern den Zwangsverwalter auf, aus ihrem Eigentum, ihrem Rathaus zu verschwinden. Die Polizei versucht, die Menschenmassen zunächst mit Wasserwerfern zu zerstreuen. Dann rücken bewaffnete vermummte Männer in Zivilkleidung an. Diese Männer werden keiner offiziellen staatlichen Struktur zugeschrieben, aber sie beginnen die Menschen zu misshandeln und unter schweren Übergriffen festzunehmen. An manchen Orten fährt dieser Mob in zivilen Fahrzeugen durch die Straßen, springt heraus und zerrt Menschen in ihre Autos. Dann werden sie an Kreuzungen, wo Aktionen stattfinden, wieder herausgeworfen. Offizielle Polizisten übernehmen die Verschleppten dort und nehmen sie fest. Es handelt sich um regelrechte Übergaben. Bei dieser Taktik handelt es sich um ein von Anfang an illegales, kriminelles Vorgehen. Aber wenn sie glauben, dass sie dafür keine Rechenschaft ablegen müssen, dann sollten sie auf ihre Kollegen schauen, die gerade versuchen, sich in Gerichtssälen für die von ihnen begangenen Folterungen zu rechtfertigen.
Die Folter ist dokumentiert
Auch der zweite Tag der Proteste gegen die Zwangsverwaltung war von solchen Übergriffen geprägt. Während die Polizei versuchte, die Menschen auf der Straße mit Wasserwerfern zurückzudrängen, erfuhren wir von einigen Leuten, dass auf der gegenüberliegenden Seite ein brutaler Angriff stattfand. Die Abgeordnete Sümeyye Boz und ich machten uns auf den Weg zu diesem Ort. Alle, die uns sahen, zeigten uns den Weg zu dem Ort, an dem gefoltert wurde. Es gibt natürlich eine lange Geschichte darüber, warum wir die Aufnahmen gemacht haben, aber kurz gesagt ging es darum, Beweise für unsere Kommission, die Anzeige erstatten würde, zu liefern und denen, die immer noch behaupten „Unsere Soldaten und Polizisten tun so etwas nicht“, die Wahrheit zu zeigen. Als wir die Treppe hinaufgingen, sahen wir wie fünf Polizisten mit Baretts, die einen etwa zwanzig Jahre alten jungen Mann in einen abgelegenen Bereich geschleift hatten und ihn fest beim Kragen packten. Einer von ihnen sagte: „Sie können uns nicht filmen“. Hätte dieser als Polizist verkleidete Paramilitär seine Rolle gut gelernt, dann wüsste er, dass jedes Mitglied der Gesellschaft das Recht und die Verantwortung hat, Beweise zu sammeln, wenn es Zeuge von Folter wird. Gleichzeitig filmte uns ein anderer bewaffneter Mann in Zivil mit einer Polizeikamera und versuchte, uns einzuschüchtern, anstatt die Folter aufzuzeichnen
Paramilitärs als Polizisten
Eine Café-Angestellte, die Zeugin der Folterungen geworden war, weinte heftig und erklärte: „Sie haben ihn so sehr geschlagen.“ Die roten Schwellungen und Quetschungen im Gesicht des jungen Mannes, die in ein paar Tagen noch dicker werden und sich als Blutergüsse zeigen würden, bestätigten diese Aussage. Als die Personen sahen, dass wir sie filmten, fühlten sie sich gezwungen, die Folter in dem Bereich jenseits der Kameraüberwachung zu beenden, den jungen Mann offiziell festzunehmen und ihn schnell hinter die Polizeisperre zu bringen. Auf der Aufnahme hört man deutlich, wie sie uns zurufen „Ihr seid nicht mein Volk“. So wie ich das sehe, scheinen diese paramilitärischen Polizisten im Gegensatz zur Regierung Artikel 664 der Verfassung eher zwiespältig zu betrachten.
Später erfuhren wir, dass dieser junge Mann ein Journalist war, der für eine lokale Zeitung arbeitete und als Anhänger der Hüda-Par5 bekannt war. Wahrscheinlich hat die Polizei, sobald sie das erkannte, den jungen Mann sofort aus dem Gewahrsam entlassen.
Das ist nicht Gaza, sondern Êlih!
Festgenommene, die einer widerständigen Identität angehören, haben jedoch nicht so viel Glück wie dieser junge Mann. Die meisten von ihnen werden seit mindestens vier Tagen wegen einem Vorwurf festgehalten, der nicht einmal einmal zu einer Anklage dienen kann. Sie sind Schlägen, Fesselungen, Beleidigungen, rassistischen Gesängen als Foltermethode ausgesetzt. Am ersten Tag der Proteste erinnerte die Behandlung der an der Mauer aufgereihten Widerständigen viele von uns an die Bilder von palästinensischen Gefangenen in Gaza und Rafah. Es ist gesellschaftlich anerkannt, dass diejenigen, die diese Bilder anklagen, das gleiche mit den Menschen in Êlih machen.
Ein Symbol des ehrenhaften Widerstands
Die öffentliche Folter auf der Straße erinnert an die Kreuzigungen im Imperium Romanum. Sie verfolgte verschiedene Ziele. Die drei offensichtlichsten Ziele waren Abschreckung, Demütigung und politische Kontrolle. Doch Jesus Christus und seine Anhänger unterliefen diese drei Ziele und verwandelten das Folterinstrument in ein Symbol der Liebe, des Opfers und der Ehre. Sie erinnern sich vielleicht an das Video, in dem ein junger Mann zu sehen ist, der am ersten Tag der Proteste von Dutzenden von Polizisten fast zu Tode geprügelt wurde. Seine Hand, die sich zwischen seinen Peinigern erhob, machte trotz allem ein Siegeszeichen. Diese beiden Finger sind das Symbol der Liebe, eines würdigen Opfers und ehrenhaften Widerstands.
Wer sind denn die Terroristen?
Wenn von Folter die Rede ist, dann kommen sofort zwei Reaktionen: „Unsere Soldaten oder Polizisten würden das nie tun.“ Aber wenn die Aufzeichnung der Folter ans Licht kommt, dann heißt es: „Unsere Soldaten und Polizisten haben es getan, weil diese Leute es verdient haben.“ Wenn wir Folterfälle an die Öffentlichkeit bringen, schwanken die Reaktionen zwischen diesen beiden Polen. Uns ist klar, dass diese Reaktionen nicht unabhängig von dem auf Unterwerfung basierenden und nationalistischen Bildungssystem, dem Zwangsunterricht zur nationalen Sicherheit und der manipulativen Propaganda sind, die ständig verbreitet wird, zu betrachten sind. So skandierte eine Gruppe von Menschen, die sich als Nationalisten bezeichneten, während einer kürzlich stattgefundenen Gewerkschaftsdemonstration, als sie von der Polizei angegriffen und mit Tränengas beschossen wurden: „Sind wir Terroristen? Warum schießt ihr Gas auf uns?“. Alle, die auch nur einen Tag lang ein anderes Medienorgan als den Mainstream verfolgen, können jedoch feststellen, dass die Bedingungen für die Einstufung als Terrorist in der Türkei recht flexibel sind. Im Übrigen wurde im Jahr 1700, als das Wort Terrorismus geprägt wurde, die „Verbreitung von Gewalt und Angst aus politischen Motiven“ damit bezeichnet. Wer also an die 1980er, 1990er Jahre und das letzte Jahrzehnt denkt, kann klar erkennen, wer und welche Ideologien von dem politisch motivierten Klima der Angst profitiert haben.
Der Kommunalputsch und die damit einhergehende politisch motivierte Gewalt der Strafverfolgungsbehörden zielen darauf ab, die Gesellschaft zu lähmen, sie zu brechen und zum Schweigen zu bringen. Dies ist offensichtlich. Das Regime der Zwangsverwalter, die Angriffe auf die zivile Politik, die Folter in der Öffentlichkeit, das sind keine Zufälle, sondern Schritte im Rahmen der psychologischen Kriegsführung.
Yusuf Kaya in Gewahrsam auf dem Präsidium in Êlih. Deutlich zu sehen ein Hämatom am Auge | Foto via ÖHD Batman
Die von Sauberkeit Redenden starren vor Schmutz
In einer Erklärung vor einigen Tagen behauptete Justizminister Yılmaz Tunç, dass die Stadtverordnetenversammlung nur dann einen neuen Bürgermeister wählen könne, wenn die derzeitige Bürgermeisterin verurteilt sei, und dass die Zwangsverwaltung nur unter dieser Bedingung aufgehoben werden könne. Der Grund für die Ernennung eines Zwangsverwalters in der Kommune Qereyazî (Karayazı) im Jahr 2019 war jedoch, dass die Verurteilung des Bürgermeisters aufrechterhalten worden war. Wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Dauer einer Haftstrafe in der Türkei sieben Jahre beträgt, ist die Wahl einer Kurdin oder eines Kurden für eine fünfjährige Kommunalverwaltung von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen. Diejenigen, die so dreist von sauberen Kandidaten und sauberen Papieren sprechen, sind sich dieser Tatsache bewusst, aber sie wollen sie nicht erwähnen. Gegen viele unserer Ko-Bürgermeisterinnen und Ko-Bürgermeister, deren Pässe derzeit gesperrt sind, laufen weder Ermittlungen noch ein Verfahren, aber auf ihren Ausweisen steht mit unsichtbarer Tinte „kurdisch“. Und das ist alles, was nötig ist, um den Hammer der Zwangsverwaltung niedergehen zu lassen.
Sie werden zur Verantwortung gezogen werden
All diese betrügerischen Machenschaften sollen das kurdische Volk dazu zwingen, mit einem geladenen Revolver Russisch Roulette zu spielen. In diesem Spiel ändern sich die Spielregeln jedes Mal, wenn die Kurdinnen und Kurden gewinnen. Die Erklärungen, dass dies Aufgabe der Gerichte sei und man geduldig auf die Justiz warten solle, um das ganze abzuschließen, verhöhnen den Verstand dieses Volkes.
Der berechtigte Widerstand gegen den Versuch eines Kommunalputsches in Wan (Van), war eine deutliche Ansage des kurdischen Volkes, dass es dieses korrupte Demokratiespiel nicht mehr mitspielt. Der Protest der Menschen in Êlih, Esenyurt, Xelfetî (Halfeti) und den anderen Teilen Kurdistans entlarvt dieses korrupte Spiel und macht den Herrschenden Angst.
Der Polizeichef, den ich am Anfang dieses Artikels erwähnte, schrie uns Abgeordnete, die die Gewalt aufzeichneten und dagegen intervenierten, an: „Der Staat zahlt eure Gehälter. Warum verratet ihr den Staat?“ Er wollte nicht begreifen, dass sowohl seine als auch unsere Gehälter aus den Steuern des Volkes stammen. Hätte er das erkannt, hätte er die kleine Macht, die er genoss, zurückweisen und über das hinausgehen müssen, was er gewohnt war. Das Volk, sein Widerstand und sein Gewissen wird die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Alle, die dem zuwiderhandeln, sei es in der Strafverfolgung, in der Politik oder in der Bürokratie, werden vor der Justiz des Volkes zur Rechenschaft gezogen werden.
1 Sıddık Tan, Vorstandsmitglied des Menschenrechtsvereins IHD und Mitglied der Vorgängerpartei der DEM-Partei HEP wurde am 20. Juni 1992 in Êlih ermordet. Bewaffnete hatten die Wohnung eines Freundes von Tan gestürmt und ihn erschossen. Die Waffen, die eingesetzt wurden, deuteten auf eine Verbindung der Mörder zum Staat hin. Ein Jahr zuvor hatte Tan bereits einen Autobombenanschlag schwer verletzt überlebt. 1990 war er festgenommen und schwer gefoltert worden.
2 Cengiz Altun war Korrespondent der prokurdischen Wochenzeitschrift Yeni Ülke. Er recherchierte über die radikalislamistische türkische Hizbollah, die Anschläge gegen kurdische Oppositionelle verübte und hatte mehrere Artikel zur Kooperation zwischen der Terrororganisation und der türkischen Armee veröffentlicht. Altun legte die Verbindungen der Hizbulkontra zum „Amt für Spezialkriegsführung“ offen. Wenige Monate vor seinem Tod war Altun im Oktober 1991 festgenommen worden. In Gewahrsam bei der Militärpolizei in Kercews (Gercüş), wo er zwei Tage lang mit verbundenen Augen und gefesselten Händen festgehalten wurde, drohte man ihm: „Du solltest beten, dass es Augenzeugen gibt, die gesehen haben, wie wir dich mitgenommen haben. Sonst wärst du nicht registriert.“ Am 24. Februar 1992 wurde er von sieben Kugeln durchlöchert. Fünf davon trafen seinen Hinterkopf.
3 Edip Solmaz, erster kurdischer, freiheitlicher Bürgermeister von Êlih, wurde am 12. November 1979 von Contras vor seinem Haus erschossen, nachdem er am 14. Oktober desselben Jahres als unabhängiger Kandidat zum Bürgermeister gewählt worden war. Der Mord an ihm wurde nie gesühnt.
4 Artikel 66: „Jeder, der durch das Band der Staatsangehörigkeit an den türkischen Staat gebunden ist, ist ein Türke. Das Kind eines türkischen Vaters oder einer türkischen Mutter ist ein Türke.“
5 Politischer Arm der türkischen Hizbullah
Zuerst erschienen bei Yeni Özgür Politika