Mittlerweile haben die Zahlen der Erdbebentoten in Nordkurdistan, Rojava, der Türkei und Syrien fast 40.000 erreicht. Ein Ende des Anstiegs ist nicht abzusehen. Während immer noch unzählige Menschen unter den Trümmern liegen, setzt das AKP/MHP-Regime seine antikurdische und antialevitische Politik fort. Einwohner:innen der betroffenen Gebiete werfen der Regierung vor, das Erdbeben bewusst in diesem Sinne zu nutzen.
Angriffe auf Rojava und Nordsyrien zeigen das wahre Gesicht des Regimes
Am drastischsten zeigt sich dieses Vorgehen des AKP/MHP-Regimes in den Angriffen auf von den Erdbeben betroffenen Gebieten in Syrien und Rojava. So wurde die Stadt Tel Rifat im Kanton Şehba von der türkischen Armee mit Artillerie angegriffen. In der Region haben 15.000 Menschen aus Aleppo nach dem Erdbeben Zuflucht gesucht. Auch Kobanê wurde von türkischen Drohnen attackiert. Dabei starb ein Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD).
Mörderisches Ausmaß der Politik des Regimes zeigt sich in Nordkurdistan
Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Das Vorgehen des AKP/MHP-Regimes nach dem Erdbeben in Nordkurdistan ist nicht weniger als eine Fortsetzung seiner antikurdischen und antialevitischen Politik und zeigt sich in seinem vollen mörderischen Ausmaß. Die meisten der vom Erdbeben besonders schwer betroffenen Regionen sind alevitisch und kurdisch geprägt. Sie werden systematisch vernachlässigt. In einem Versuch, die Hilfeleistungen auf die Institutionen des Regimes, insbesondere auf die Katastrophenschutzbehörde AFAD zu konzentrieren, wird die Hilfe in vielen Bereichen blockiert. Die Verhängung des Ausnahmezustands wurde als Mittel genutzt, zivile Hilfe, insbesondere aus oppositionellen Kreisen, zu beschlagnahmen. Offenbar steht dahinter das kurzfristige Kalkül, vor den Wahlen im Mai Kompetenz im Krisenmanagement zu zeigen, um so Stimmen für die AKP zu erwirken. Das Vorgehen von AFAD ist jedoch von struktureller, vorsätzlicher Inkompetenz geprägt, so dass es in vielen Regionen von Anfang an am Nötigsten fehlte. In vielen Orten im Epizentrum sind bei Temperaturen von bis zu minus 18 Grad auch eine Woche nach dem Beben noch nicht einmal Zelte eingetroffen.
„Keine Hilfskräfte“ in einer der militarisiertesten Regionen der Welt
Diese Politik gewinnt eine weitere verbrecherische Dimension, wenn man die vielen Berichte verfolgt, in denen zivile Rettung durch staatliche Kräfte verhindert wurde. In den ersten 48 Stunden, dem entscheidenden Zeitfenster, um noch möglichst viele Menschen aus den Trümmern der eingestürzten Wohnblöcke zu retten, waren an fast keinem Ort in Nordkurdistan Kräfte von AFAD oder sonstiger staatlicher Einrichtungen zu sehen. Auch Polizei und Militär unternahmen so gut wie nichts. An mangelnden Kräften kann das nicht gelegen haben. Nordkurdistan ist eine der militarisiertesten Regionen der Welt. In vielen Gebieten sind mehr Soldaten stationiert, als Menschen dort leben. Dass diese Kräfte offensichtlich nur zur Repression und nicht zur Hilfe für die Menschen eingesetzt werden, zeigt den kolonialfaschistischen Charakter des Regimes.
Regime kennt nichts anderes als Repression
Erst nach 48 Stunden trafen allmählich Einheiten von AFAD ein und begannen punktuelle, hilflose Rettungsversuche an einzelnen der Tausenden Ruinen. Währenddessen waren staatliche Kräfte damit beschäftigt, zivile Rettungsversuche zu behindern und zu unterbinden. So wurde eine Baufirma aus Wan in der Provinz Dîlok (tr. Antep) daran gehindert, weiter Opfer unter den Trümmern zu bergen. In Semsûr (Adiyaman) wurden am Samstagabend fünf freiwillige Rettungshelfer aus Amed (Diyarbakir) festgenommen und auf der Polizeidirektion schwer misshandelt. Unter anderem wurde ihnen eine Waffe an den Kopf gehalten und sie wurden mit kaltem Wasser übergossen, bevor sie nackt auf der Straße ausgesetzt wurden. Dieses Vorgehen dürfte unzähligen Menschen das Leben gekostet haben und kann nur als verbrecherische Fortsetzung der kurden- und alevitenfeindlichen Politik des AKP/MHP-Regimes bezeichnet werden.
Haltung der Bundesregierung ist Komplizenschaft mit dem türkischen Faschismus
Wenn die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock die Öffnung der türkischen Grenzübergänge fordert, dann mag das hilfreich erscheinen. Offensichtlich werden Hilfsgüter aber auch hier von türkeitreuen Söldnern des Al-Qaida-Ablegers HTS (Hayat Tahrir al-Sham) und anderer Terrorgruppen abgefangen, damit sie keine kurdischen Siedlungen erreichen. Die Bundesregierung hat das systematische Bombardement der Zivilbevölkerung von Rojava und Nord- und Ostsyrien, die Zerstörung der dortigen Infrastruktur durch den NATO-Partner Türkei, die alle Kriterien von Kriegsverbrechen erfüllen, hingenommen und beide Augen aus politischem Kalkül verschlossen. Obwohl die Türkei auf international gelistete Terrororganisationen in Nordsyrien setzt, scheint sich die Bundesregierung daran wenig zu stören. Wenn Syrien Erdbebenopfer bombardieren würde, wäre es ein Skandal, wenn es die Türkei tut, ist es keine Erwähnung wert. Während ein ähnliches Vorgehen Russlands in der Ukraine die grünen „Menschenrechtsverteidiger“ auf den Plan ruft, bleibt Rojava isoliert und aus Rücksichtnahme auf die Türkei von der Hilfe ausgeschlossen. Wenn das Vorgehen der Türkei ein Verbrechen ist, dann ist die Haltung der Bundesregierung mindestens Komplizenschaft.
Zivilgesellschaftliche Hilfe und politischer Druck notwendig
Hilfe für die Menschen in den Kriegsgebieten ist dringend notwendig. Die Zivilgesellschaft muss unterstützt und ihre Forderungen nach Hilfeleistungen müssen mit internationalem Druck und Unterstützung umgesetzt werden. Hinter dem Vorgehen des AKP/MHP-Regimes steht eine faschistische Haltung. Jedes Mittel, das an dieses Regime fließt, ist ein Mittel, das auf die eine oder andere Weise in den militärischen und sozialen Krieg gegen Kurd:innen und alle anderen Identitäten, die nicht dem Denken des Regimes entsprechen, geht. Der Nahe Osten ist ein Brennglas der Krise des Nationalstaatsmodells.
Statt auf Regierung und Regime zu vertrauen, ob sie sich nun westlich-demokratisch oder offen faschistisch und autokratisch geben, welche doch nur ihre eigenen politischen Interessen in den Vordergrund stellen, ist zivilgesellschaftliche Solidarität und politischer Kampf gefragt, um die Verhältnisse zu beenden, die solche Naturkatastrophen zu vorsätzlichen Verbrechen gegen die Bevölkerung nutzen.