Eine Woche ist seit dem Erdbeben in Kurdistan, Syrien und der Türkei vergangen. Die Zahl der Toten ist mittlerweile auf über 35.000 gestiegen. Unzählige Tote befinden sich noch unter den Trümmern. Die Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Muazzez Orhan, befindet sich seit kurz nach dem Beben als Teil einer HDP-Delegation in der nordkurdischen Provinz Dîlok (tr. Antep). Sie berichtete gegenüber ANF über die Geschehnisse seit dem Erbeben in Avasîm (Islahiye).
Such- und Rettungsarbeiten wurden eingestellt
Von ihrer Ankunft in der Region erzählt Muazzez Orhan: „Als ich am Morgen hier ankam, waren noch keine 24 Stunden seit dem Erdbeben vergangen. Es waren nur zwei Such- und Rettungseinheiten in den Ruinen aktiv. Bei ihnen handelte es sich wohl vor allem um Feuerwehrleute. Die Menschen befanden sich in einer wirklich sehr schwierigen Situation. In Avasîm sind 60 bis 70 Prozent der Stadt vollständig zerstört. An den übrigen Orten gibt es große Schäden. Es gibt viele Verwundete, Tote und viele, die weiterhin unter den Trümmern begraben liegen. Zuletzt haben wir vor drei Tagen versucht, ins Krankenhaus zu gehen und die Verletzten zu besuchen. Von der Krankenhausverwaltung konnten wir niemanden antreffen. Es waren Staatsanwälte da, die erklärten, sie kümmerten sich nur um die rechtliche Abfertigung der Leichen. Nach ihren Aussagen wurden allein an diesem Tag über 830 Todesfälle registriert. Natürlich ist die Zahl seitdem gewaltig angestiegen.
Bei rechtzeitigem Eingreifen hätten Menschen gerettet werden können
Als wir gestern eine Ruine besuchten, hieß es, dass drei weitere Personen lebend herausgeholt worden seien. Es gibt eigentlich noch Hoffnung. Aber die AKP-Regierung ist in den ersten beiden Tagen nicht hierhergekommen. In den folgenden Tagen mehrten sich die Orte, von denen nur noch schwindende Geräusche zu hören waren. An vielen Orten wurde die Arbeit eingestellt, weil die Hoffnung aufgegeben wurde. Wenn aber gestern und auch heute noch Menschen lebend gerettet wurden, bedeutet das, dass bei einem korrekten, koordinierten und rechtzeitigen Eingreifen viel mehr Menschen hätten gerettet werden können. Aber leider haben Tausende, Zehntausende von Menschen aufgrund dieser Mängel ihr Leben verloren. Wir hoffen, dass die Zahl nicht weiter zunimmt.“
Todesopfer wegen mangelnder Vorsorge und fehlender Koordination
Orhan macht dem Staat schwere Vorwürfe: „Die Zahl der Todesopfer hat die 30.000 überschritten. Das ist nicht ausschließlich auf die Erdbebenkatastrophe zurückzuführen, sondern vielmehr auf mangelnde Vorsorge, fehlendes rechtzeitiges Eingreifen und mangelnde Koordination. Stellen Sie sich vor, in Avasîm war es nicht möglich, den Krisenstab zu erreichen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass man Institutionen erreichen und mit ihnen zusammenarbeiten kann, aber die Behörden sind komplett unvorbereitet und die Koordination ist sehr schlecht. Es herrscht großes Chaos.
Sicherheitskräfte auf Menschenjagd
Auf der anderen Seite hat sich ein Klima der Hetze und Gewalt entwickelt, das auch immer wieder auf die Tagesordnung gebracht wird. Es gab viele Nachlässigkeiten, die zu diesen Ereignissen führten. Die Sicherheitskräfte hätten vom ersten Tag an für die Sicherheit von Leben und Eigentum in den Stadtvierteln sorgen müssen. Schließlich hat es ein Erdbeben gegeben, und während die Menschen um das Leben ihrer Angehörigen unter den Trümmern fürchten, wollen sie auch ihr Eigentum in den noch intakten Gebäuden schützen. Wegen einer Hetzkampagne gegen angebliche Plünderer wird jetzt jeder [von Sicherheitskräften] angegriffen, egal ob er plündert oder Plünderungen verhindern will. In Avasîm kam es zu keinen ernsthaften Plünderungen oder zu Gewalt, aber seit zwei oder drei Tagen machen die Sicherheitskräfte Jagd auf Menschen, als ob sie jeden verdächtigen. Helfende und Betroffene werden unter Generalverdacht gestellt.“
Immer noch kein Strom und Wasser in Avasîm
Die HDP-Abgeordnete berichtet von großer Hilfe aus der Bevölkerung Kurdistans und der Türkei, die trotz der Versuche des Staates, sie aufzuhalten, die Region erreiche: „Auch wenn versucht wurde, die Hilfe zu stoppen, so traf doch Unterstützung aus der ganzen Türkei ein. Aber da der Staat aufgrund der mangelnden Koordination selbst nichts erreichen konnte, war er auch nicht in der Lage, die Hilfe flächendeckend aufzuhalten. Es herrscht eine große Desorganisation. Wir sind seit dem ersten Tag hier und haben versucht, jeden Ort zu erreichen. Wir haben Avasîm, Dîlok, Xaltan (tr. Altınüzüm) und die Bergdörfer zu erreichen versucht. Dutzende von Dörfern sind unterschiedlich betroffen. So gibt es beispielsweise in den unteren Dörfern kaum Schäden, während in den höher gelegenen Orten Schäden und Todesopfer zu beklagen sind. Wir konnten noch keine offizielle Erfassung durchführen, weil sich die Hälfte vieler Familien im Zentrum von Avasîm befindet und viele von ihnen dort vermisst werden. Viele haben die Leichen in die Dörfer gebracht und dort begraben.
Kein Wasser, um die Toten zu waschen
Bei einem Treffen mit den Staatsanwälten sagten diese, dass sie keine Erfassung durchführen, sie schickten die Leichen einfach zu den Friedhöfen, wo sie rituell gewaschen und beigesetzt würden. Aber in Dutzenden von Fällen, die wir beobachtet haben, haben die Menschen die Toten aus den Ruinen geholt und sie direkt begraben. Dies ist auch an anderen Orten der Fall. In Avasîm gibt es weder Wasser, um die Toten zu waschen, noch Strom.“
Rettungen trotz und nicht wegen AFAD
Orhan klagt, die staatliche Katastrophenschutzbehörde AFAD behindere die Rettungsarbeiten: „Ich war in Komîrli [Nurdağı], Hassa und in Kırıkhan bei Hatay. In Hatay habe ich mich mit einem Vertreter des Krisenstabs von Kırıkhan getroffen. Offensichtlich befand sich Kırıkhan in der gleichen Situation, aber die Einwohnerinnen und Einwohner von Kırıkhan waren teilweise in die Dörfer gegangen. Der Beamte sagte mir auch, dass man in den ersten beiden Tagen aufgrund von Unzulänglichkeiten nicht richtig helfen konnte. Als wir dorthin fuhren, war dort eine private Kranfirma namens Özaras-Grup aus Wan aktiv. Sie hat in den ersten beiden Tagen 28 Menschen aus den Trümmern befreit. Ich möchte ihr von hier aus sehr herzlich danken.
Blockade von Hilfe durch Staat kostet viele Menschenleben
In Avasîm, Komîrli und Kırıkhan retteten die Menschen aus eigener Kraft, was sie konnten. Sie bargen Leichen und gruben Überlebende aus. Nachdem die Behörden ankamen, wurden diese Arbeiten von ihnen gestoppt und die Behörden übernahmen die Kontrolle. In Hassa, dem Ort, den wir als erstes aufsuchten, wurden Rettungsarbeiten in der Ruine des Hauses des Bruders eines AKP-Abgeordneten durchgeführt. Aber an anderen Stellen, zum Beispiel in einer Ruine, unter der 90 Menschen verschüttet waren, wurde nichts unternommen. Es wurde niemandem erlaubt, irgendetwas zu machen. Die Kräfte von AFAD und UMKE [Nationale Medizinische Rettungseinheit] reichten nicht aus, aber trotzdem wurde die Arbeit von den Menschen, die in den ersten beiden Tagen die Rettungen durchgeführt hatten, gestoppt. Die zivilen Helfenden durften nur noch helfen, wenn die Behörden sie dazu gezielt anforderten. Das gilt auch für Avasîm, Komîrli, Kırıkhan und Hassa. Natürlich waren alle sehr wütend darüber. Die Leute sagten, dass sie Leben hätten retten können, dass sie, während die Rettungseinheiten hier arbeiteten, ihr Bestes anderswo hätten tun können und vielleicht weitere Leben hätten gerettet werden können. So hat die Behinderung der Hilfe durch Unternehmen wie der Özaras Grup oder ihrer Mitarbeiter tatsächlich viele Menschenleben gekostet.“
Die Menschen brauchen dringend Zelte und Toiletten
Orhan spricht über den dringenden Bedarf im Katastrophengebiet und unterstreicht, dass mobile Toiletten, Waschmöglichkeiten und Zelte notwendig seien und besonders eilig gebraucht würden. Sie warnt, dass ansonsten massive Gefahren für die Gesundheit der Opfer drohten, und führt aus: „Am vierten Tag kamen Zelte usw. an, aber nicht genug für alle. Gestern kam unsere Delegation wieder und wir besuchten viele Orte, an denen die Menschen mit ihren eigenen Mitteln Zelte aus Planen aufgebaut haben. Aber es gibt auch Menschen, die das nicht können, weil sie immer noch vor den Ruinen, unter denen ihre Angehörigen begraben sind, ausharren.
Regierung blockiert alles, was nicht unter ihrer Kontrolle steht
Die Hilfe aus der Bevölkerung ist angekommen, aber es gibt nicht einmal einen Ort, an dem die Hilfsmittel aufbewahrt werden können, um sie je nach Bedarf sinnvoll zu verteilen. Natürlich hätte der Staat diese Möglichkeit bieten müssen, aber er ist in dieser Situation sehr schwach. Man könnte diese Situation viel leichter überwinden, wenn die Regierung mit der Opposition und Nichtregierungsorganisationen solidarisch zusammenarbeiten würde. Aber da der Ansatz der Regierung nicht darin besteht, Menschen am Leben zu erhalten und Probleme zu lösen, bedroht sie ständig alle Formen der Organisierung, die nicht unter ihrer Kontrolle stehen, und versucht sie zu verhindern.“