Cenî: Die Natur brachte die Beben, der Staat die Opfer

„Das Ausmaß dieser Naturkatastrophe ist durch und durch staatlich verursacht und der ungleiche Umgang mit den Verschütteten ist durch und durch politisch motiviert“, erklärt das kurdische Frauenbüro Cenî zum Erdbeben in Kurdistan, der Türkei und Syrien.

Die Wut auf den türkischen Staat ist groß seit dem Erdbeben in Kurdistan, Syrien und der Türkei. Diese Wut wird auch in einer Erklärung des kurdischen Frauenbüros Cenî (Kurdisches Frauenbüro für Frieden – Cenî e.V.) mit Sitz in Berlin deutlich:

„In den sozialen Medien mehren sich die Stimmen, dass der Staat kläglich versagt hat. Die Frage hallt über das gesamte Parteispektrum des Landes: Wo ist die Regierung? Wo steckt der Staat? Denn spätestens jetzt sieht ein beachtlicher Teil des türkischen Volkes der Realität ins Auge: Der Staat hat alle Toten und Verschütteten billigend in Kauf genommen. Im Gegenzug konnte er sich die Taschen füllen.“

Diese endlose Profitgier habe Zehntausenden Menschen das Leben genommen, stellt das Frauenbüro fest: „Die willkürlich erteilten Baugenehmigungen für instabile Häuser, die schlechte Infrastruktur, die korrupten Regierungsbeauftragten und die vermögenden Bauunternehmer. An ihren Händen klebt das Blut aller Menschen, die von dem schweren Erdbeben am Montag in Nord- und Westkurdistan sowie Syrien und der Türkei betroffen sind. Dieses Blut wird beklagt. Als das von türkischen und syrischen Menschen. Wieder fällt das kurdische Volk durch das Schweigen der Welt in die Arme der Flaggen und Namen ihrer gewaltvollen Fremdherrscher.“

In der Türkei wird selbst Altruismus noch kriminalisiert

Weiter heißt es in der Erklärung von Cenî: „Menschen trauern, sind wütend, wollen helfen. Spendenaufrufe überlagern sich, unzählige Kartons mit Winterkleidung und Decken werden in LKWs europäischer Städte Richtung Katastrophengebiet verfrachtet. Doch wer sind die Spender und wer die Versorgten?

Es ist kein Geheimnis, nicht einmal ein offenes, dass der türkische Staat eine anti-kurdische und faschistische Kriegspolitik führt. Dabei ist die Kriegsführung nicht nur auf die seit Jahren enorm aufgestockten militärische Ressourcen beschränkt. Alles auf staatlicher Ebene wird in Form von Organisationen, Vereinen, Bewegungen und Initiativen dazu angehalten, Kurdinnen und Kurden gezielt zu bekämpfen.

So wird selbst auf gemeinnütziger Ebene kurdisches Leid ignoriert und die Hilfsbereitschaft der Menschen ausgebeutet. Staatliche Organisationen priorisieren in eigenem Interesse, das heißt, kurdische und oppositionelle Orte sind die Verlierer in der Hierarchie der Wertigkeit. Ja, selbst als Opfer einer Naturkatastrophe werden sie vom faschistischen Staat Türkei noch diskriminiert, unterdrückt oder bekämpft (Es hat sogar Festnahmen von Helfenden gegeben). Das türkische Volk ignoriert diese Problematik zum Großteil. Alle, die darauf hinweisen, werden sozial geächtet und als Unmenschen behandelt.

Kollektive Angst vor dem K-Wort

Die Ausblendung kurdischen Lebens ist neben seiner proaktiven Auslöschung eine Form der anvisierten ethnischen Säuberung, die Erdogan in seiner islamistisch-faschistischen Politik verfolgt. So wird ganz bewusst nicht von kurdischen Menschen gesprochen, wenn die Staatspresse, aber auch die breite Öffentlichkeit von den Erdbebenopfern spricht. Nur unter einer kolonialen Fremdherrschaft, die sich seit Dekaden so etabliert hat, ist beim Sprechen über eine Katastrophe die Negierung des am meisten betroffenen Volkes möglich.

Natürlich ist derzeit jeder tote Mensch einer zu viel, ungeachtet der Herkunft. Doch die Tatsache, dass viele der Opfer kurdisch sind, weil die betroffenen Gebiete in Kurdistan liegen, wird aus einer anti-kurdischen Haltung heraus ignoriert. Es sind fast ausschließlich Kurdinnen und Kurden selbst, die dieses Problem ansprechen und sich der anti-kurdischen Narrative widersetzen und das, während sie Familienangehörige betrauern oder um ihre Leben bangen.
Alevitische Kurdinnen und Kurden sind am meisten bedroht, insbesondere in alevitisch-kurdischen Stadtteilen und Dörfern kommt kaum Hilfe an. Im Gegenzug wurden aber sofort zivilgesellschaftlich organisierten Hilfeleistungen staatlicherseits mittels (Kriegs- und Putsch-tauglichem) Ausnahmezustand aufgehalten In AKP-Hochburgen wurde bereits am ersten Tag geborgen, so konnten glücklicherweise viele Leben gerettet werden. Das Leben alevitischer Kurdinnen und Kurden scheint in dem türkisch besetzten Bakur nichts wert zu sein – genauso wie im syrisch besetzten Rojava.

In Bazarcix [auch Markaz, tr. Pazarcık) leben hauptsächlich kurdische Bürgerinnen und Bürger, die alevitisch sind. Besonders sie sind von der staatstragenden Symbiose eines nationalistischen Sunnitentums betroffen. Die türkischen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte sowie Teile der Gesellschaft stilisierten sie zum Prototypen ihres Feindbildes. Ihre rassistischen Ideologien töten kurdische Menschen.

Dessen sind sich die allermeisten Menschen in der Türkei bewusst, doch es wird totgeschwiegen. So wie aktuell die Existenz der Kurdinnen und Kurden in Nordkurdistan und Westkurdistan als vom Beben meist betroffene Volksgruppe totgeschwiegen wird: In den Sozialen Medien wie auch der internationalen Presse wird von einer Naturkatastrophe in der Türkei und Syrien gesprochen. Das Epizentrum wie auch nahezu alle betroffenen Städte in beiden Kolonialstaaten sind kurdisch.

Kurden? Nicht jetzt, wir haben Besseres zu tun!

Das zu thematisieren ist nichts anderes als eine Tatsache auszusprechen und doch wird es in den faschistischen und kolonial denkenden Gesellschaftsstrukturen, in denen sich das kurdische Volk bewegen muss, als ein unpassendes Aufwiegeln verpönt. Jetzt sei keine Zeit, über Politik zu reden. Gut, denken wir uns dann, warten wir ab, bis die alevitisch-kurdischen Menschen in Maraş und Semsûr nach drei Tagen die ersten Helfer der Katastrophenschutzbehörde AFAD begrüßen dürfen, um die Leichen ihrer Liebsten zu bergen. Es eilt ja nicht, warten wir ab, bis das türkische Militär seit Dienstag seine Angriffe gegen die nur 24 Stunden zuvor von schweren Nachbeben erschütterten Menschen aus Efrîn beendet hat.

Das Ausmaß dieser Naturkatastrophe ist durch und durch staatlich verursacht und der ungleiche Umgang mit den Verschütteten ist durch und durch politisch motiviert. Wer das nicht sieht und es wagt, Kurdinnen und Kurden eines falschen Zeitpunkts zu bezichtigen, ignoriert Kriegsverbrechen und stellt sich somit auf die Seite von Erdogan und seiner massen- und frauenmörderischen Politik.

Natürlich sind es Kurdinnen und Kurden, die auf die politische Dimension aufmerksam machen, sie sind ja auch die Einzigen, deren Leben eine hat. Kurdisch leben bedeutet politisch zu sein, ob man will oder nicht. Und kurdisch zu leben heißt auch, jederzeit umgebracht werden zu können. Dieser Gefahr stillschweigend und ohne Wehr ausgesetzt zu sein, würde kein Volk dieser Welt akzeptieren. Erst recht nicht eins der wohl widerstandsfähigsten der Welt.“