„Die Folgen der Naturkatastrophe sind politisch“

Mit den Worten „Jetzt zu helfen, um die Not zu lindern, ist unabdingbar. Eine echtes Band der internationalistischen Solidarität für die Zukunft zu knüpfen, ist lebenswichtig“ ruft die Internationale Kommune von Rojava zur Hilfe für die Erdbebenopfer auf.

Die Internationalistische Kommune von Rojava ruft zur Solidarität mit allen Betroffenen der Erdbeben in Rojava, Syrien, Nordkurdistan und der Türkei auf. „Bei uns hat die Erde gebebt, aber ohne die dramatischen Folgen, wie andere Regionen sie erleben. Wenn Grenzen Linien markieren, die manchmal unüberbrückbar sind, so ist es die Verbindung zwischen den Menschen nicht“, betont die Kommune und fordert, dass in dieser Situation schnell und unilateral reagiert werden muss: „Diese spontane Solidarität darf sich jedoch nicht wieder so schnell auflösen, wie sie entstanden ist, und erneut einer Politik, die katastrophale Effekte auf das Leben der Mehrheit der im Moment so schwer betroffenen Bevölkerung hat, das Feld überlassen.“

In der Erklärung der Internationalistischen Kommune von Rojava heißt es:

Wir von der Internationalistischen Kommune Rojava sind von der Tragödie dieses Erdbebens zutiefst berührt. Unsere Gedanken sind bei allen Familien, die hart getroffen wurden, unabhängig von ihrer Herkunft.

Bei uns hat die Erde gebebt, aber ohne die dramatischen Folgen, wie andere Regionen sie erleben. Wenn Grenzen Linien markieren, die manchmal unüberbrückbar sind, so ist es die Verbindung zwischen den Menschen nicht.

Hier, im Nordosten Syriens/Westkurdistans (Rojava), gibt es Tausende von Menschen, die eine starke Beziehung zu anderen Menschen in anderen Teilen des Landes haben, vor allem aber auch zu den Menschen in der Südtürkei/Nordkurdistan (Bakur).

Wir sind aber der Meinung, dass wir vor lauter Emotionen nicht vergessen dürfen, einen politischen Blick auf die Situation zu werfen. Was heute geschieht, ist kein von der Organisation der Gesellschaft unabhängiges Naturereignis. Stattdessen hängt es mit nationalistischen und rassistischen Verwerfungen, die die Völker spalten, mit einer kapitalistischen Wirtschaft, die den Profit über das Wohlergehen stellt, mit einer nationalstaatlichen Politik, die von Kurzsichtigkeit und Stimmenfang geleitet wird, zusammen.

Soziopolitischen Kontext der Katastrophe nicht außer Acht lassen“

Gegenwärtig werden viele Stimmen laut, die an das Gefühl der Solidarität und an universale Werte appellieren. Wir unterstützen diese Appelle, können aber nicht akzeptieren, dass der soziopolitische Kontext, in dem sich diese Ereignisse abspielen, außer Acht gelassen wird. Die Verantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann nicht unter dem Deckmantel einer humanistischen Vision, die in den Augen der politischen Regime der Nationalstaaten der Region und in der übrigen Welt ohnehin nie real existiert hat, negiert werden. Die bürgerlichen Medien sind zu Recht von der Situation berührt, aber dieselben Medien haben vor nicht allzu langer Zeit über das Leiden derselben Menschen geschwiegen und werden wahrscheinlich in einigen Wochen wieder schweigen.

Geografischer und politischer Kontext

Das Erdbeben der Stärke 7,8, das sich in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar ereignete, hat bereits mehr als 16.000 Opfer gefordert, und leider wird diese Zahl in den kommenden Stunden wahrscheinlich noch erheblich steigen.

Die am stärksten betroffenen Regionen sind hauptsächlich kurdisch besiedelte Gebiete auf beiden Seiten der türkisch-syrischen Grenze. Sie wurden in der Vergangenheit von Ankara vernachlässigt und unterdrückt, zum Beispiel in Gurgum (tr. Maraş), stehen im Norden Syriens unter türkischer und islamistisch-extremistischer Besatzung (z.B. in Efrîn), haben die brutale Unterdrückung durch Assad erlebt (z.B. in Aleppo) oder leben derzeit unter türkischem Beschuss (z.B. in Tel Rifat). Hinzu kommen Tausende von Geflüchteten, die vor den zahlreichen Kämpfen geflohen sind, die die Region seit Jahrzehnten destabilisieren. Diese Katastrophe ist umso akuter, als die Bevölkerung schon seit langem mit wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.

Unsichtbarmachung des kurdischen Volkes“

Die derzeitige Behandlung durch die bürgerlichen Medien ist ein weiteres eklatantes Beispiel für die Unsichtbarmachung des kurdischen Volkes. Nur wenige Medien haben sich die Mühe gemacht, darauf hinzuweisen, welche Völker in den betroffenen Regionen leben. Es geht keineswegs darum, diese Naturkatastrophe identitätsstiftend zu machen, denn die Natur macht keine kulturellen Unterschiede, sondern darum, sie mit einer menschlichen und historischen Realität in Verbindung zu bringen, die es uns erst ermöglicht, die Qualen, die die Menschen durchmachen, wirklich zu verstehen. Eine echte Solidarität kann es nur geben, wenn man die Besonderheiten dieser Realität berücksichtigt.

Alles andere als eine Überraschung und mehr als eine Naturkatastrophe

Dieses Erdbeben ist bei weitem nicht das erste, das die Region erschüttert. Die Region liegt am Schnittpunkt dreier tektonischer Platten, was sie zu einem erdbebengefährdeten Gebiet macht (so wurden in der Türkei im 20. Jahrhundert nicht weniger als 230 Erdbeben mit einer Stärke von mehr als 6 registriert, 12 davon mit mehr als tausend Opfern). In der Vergangenheit gab es zahlreiche Katastrophen, zuletzt 1999 mit fast 20.000 Todesopfern. Wenn man sich dieser Realität bewusst ist, kann man feststellen, dass das derzeitige Regime trotz der bedeutenden europäischen Hilfen, die für angepasste Stadtpläne bereitgestellt wurden, alles andere als eine Präventivpolitik in dieser Angelegenheit betrieben hat. Seit Jahren warnen Seismologen vor der drohenden Gefahr gefährlicher Plattenbewegungen, ohne dass die Regierung darauf reagiert.

Dies ist umso skandalöser, wenn man die engen Verbindungen kennt, die zwischen der AKP und Erdoğan selbst mit dem Bausektor bestehen, sowie ihrer pharaonischen Projekte, die seit Erdoğans Amtsantritt durchgeführt wurden.

Die Korruptionsfälle sind zahllos, sowohl bei öffentlich-privaten Verträgen als auch bei der Verwendung minderwertiger Materialien und der Nichteinhaltung von Normen. Gegner dieser Projekte und Journalisten, die versucht haben, diese Fälle aufzuklären, sitzen reihenweise im Gefängnis. Die Gezi-Park-Proteste in Istanbul sind ein Beispiel dafür, dass sich große Teile der Bevölkerung gegen die städtische Gentrifizierung, Megaprojekte und Umweltzerstörung wehren. Sie veranschaulichen den Schaden einer Wirtschaftspolitik, die sich auf die Steigerung des Konsums und die Zentralisierung der Urbanisierung konzentriert, die die Wünsche der Bevölkerung nicht berücksichtigt und eine soziale Kluft schafft.

In den syrischen Regionen sind die Destabilisierung und die Nachwirkungen des jahrelangen Krieges noch sehr präsent. Das Regime in Damaskus, das andere internationale Verbündete hat als Ankara, hat in den letzten zehn Jahren jedoch bewiesen, dass es zu allem bereit ist, um an der Macht zu bleiben. Wenn das Autonomieexperiment von Rojava toleriert wird, dann nur aufgrund der Stärke, der Entschlossenheit und der Opfer, die es gebracht hat.

Mutwillige Unwirksamkeit von Hilfe

Wie aus zahllosen über die sozialen Medien verbreiteten Berichten hervorgeht, sind viele Gebiete entgegen der Propaganda der türkischen Regierung ihrem Schicksal überlassen. Vielerorts, zum Beispiel in Dîlok (tr. Antep), war in den entscheidenden zwölf Stunden nach dem Erdbeben keine Hilfe eingetroffen. Die Unwirksamkeit der geleisteten Hilfe ist teilweise strukturell, mutwillig und durch den geopolitischen Kontext bedingt. Heute ist die Zahl der Kommentare in den türkischen sozialen Netzwerken, in denen dazu aufgerufen wird, sich nicht für den Tod von kurdischen Menschen, darunter auch kleine Kinder, zu interessieren, erschreckend. Die türkische Regierung hat bereits unmissverständlich gedroht, dass jede Kritik an den ergriffenen Maßnahmen als Hochverrat betrachtet und unterdrückt werden wird. Es wurde eine Hotline eingerichtet, um solche „subversiven“ Handlungen zu melden. Die seit Jahren andauernde Kriminalisierung der Opposition wird von einem verzweifelten Regime, das einen Diskurs der so genannten Einheit fördert, der in Wirklichkeit ein verschärfter Autoritarismus ist, nur noch verstärkt: „Wer Kritik übt, ist gegen uns und damit gegen die Nation.“ Vor ein paar Stunden wurde Twitter in der Türkei einfach geschlossen.

In Syrien sind vor allem die Gebiete unter türkischer Besatzung und in den Händen islamistischer Söldner betroffen. Dies führt zu einer lokalen Desorganisation und erschwert die Bereitstellung von Hilfsgütern. Die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) hat angekündigt, dass sie den Gebieten, die an die von ihr verwaltete Region angrenzen, Hilfe zukommen lassen will, während das Assad-Regime die internationale Hilfe monopolisieren will. Die Embargosituation in Rojava ist ein Element, das in diesen Momenten umso mehr zu spüren ist. Die türkische Armee scheint sich trotz der Katastrophe nicht an einen Waffenstillstand halten zu wollen. So wurde beispielsweise die vom Erdbeben betroffene Region Tel Rifat am Dienstagabend erneut bombardiert.

Instrumentalisierung und Unsichtbarmachung gegen Selbstorganisierung

Vorrangig ist natürlich die Nothilfe. Allerdings muss bereits jetzt darauf geachtet werden, wie diese Katastrophe für die bevorstehenden Wahlen im kommenden Mai in der Türkei genutzt wird, aber auch, welche Lehren daraus gezogen werden. Wenn sich eine solche Katastrophe ereignet, verschwinden die Wunden und Nöte nicht mit der Aufmerksamkeit der Medien. Leben und Häuser sind zerstört, der Wiederaufbau ist ein langfristiger Prozess, der nicht nur aus Beton besteht, sondern auch die Prävention und den Aufbau lokaler Kapazitäten zur Bewältigung solcher Erdbeben einschließen sollte.

Es ist wahrscheinlich, dass Erdoğan und Assad bereits Pläne schmieden, um dies auf die eine oder andere Weise auszunutzen, so zum Beispiel durch die verstärkte Kriminalisierung von Oppositionsparteien wie der HDP. Es ist wahrscheinlich, dass dies im Rahmen einer nationalen Einheit geschieht, die nur eine Fassade ist, um ihre Macht auf Kosten der Interessen des Volkes zu erhalten. Die ersten Anzeichen deuten darauf hin, dass dies leider keine beruhigende Wirkung auf den Krieg und die repressiven Ziele der Regime haben wird, die sich nur deshalb halten können. Die aktuelle Situation macht es notwendig, schnell und unilateral zu reagieren. Diese spontane Solidarität darf sich jedoch nicht wieder so schnell auflösen, wie sie entstanden ist und erneut einer Politik, die katastrophale Effekte auf das Leben der Mehrheit der im Moment so schwer betroffenen Bevölkerung hat, das Feld überlassen.

Wir glauben, dass dieses Erdbeben in vielerlei Hinsicht symptomatisch ist für die schädlichen Auswirkungen des nationalstaatlichen Paradigmas, das der Feind lokaler Autonomie und dezentraler Selbstorganisation ist, und für einen Kapitalismus, der niemals das langfristige Wohlergehen der Menschen anstrebt, sondern sich von Krisen und Konflikten ernährt. Die Region, die heute so stark betroffen ist, ist auch der Ort, an dem seit einem Jahrzehnt beharrlich ein authentisch demokratisches politisches Modell aufgebaut wird. Dieses Modell stellt eine Bedrohung für die Machthaber dar und wird deshalb von allen Seiten angegriffen.

Heute wollen wir, ebenso wie die Selbstverwaltung, dass die Solidarität überall und konkret zum Ausdruck kommt. Morgen, wenn sich die Emotionen gelegt haben und die Kameras verschwunden sind, hoffen wir, dass die Menschen, die in dieser Region der Welt leben, nicht vergessen werden. Das hängt von allen von uns ab und ist die Essenz des Internationalismus, der in uns wohnt und keine Grenzen kennt. Jetzt zu helfen, um die Not zu lindern, ist unabdingbar. Ein echtes Band der internationalistischen Solidarität für die Zukunft zu knüpfen, ist lebenswichtig.