Die Opferzahlen der Erdbeben in Nordkurdistan, Rojava, Syrien und der Türkei steigen weiter an. Mittlerweile ist von mehr als 16.000 Toten die Rede. Unzählige Menschen sind weiterhin verschüttet. Für die meisten besteht nur noch wenig Hoffnung. Währenddessen hat das AKP/MHP-Regime den Ausnahmezustand verhängt und versucht, die Hilfeleistungen in seinem politischen Interesse zu nutzen. Mustafa Karasu aus dem Exekutivrat der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) hat eine Erklärung zum Erdbeben und der daraus resultierenden Situation abgegeben.
„Der türkische Staat versucht, sein eigenes Versagen zu verbergen“
Karasu wünscht zunächst den Verletzten schnelle Besserung und spricht den Familien der Todesopfer in der Türkei und Kurdistan sein Beileid aus. Er wirft dem türkischen Staat vor, das Ausmaß der Katastrophe weiterhin zu verschleiern, und sagt: „Es war ein sehr schweres Erdbeben. Die Verluste sind groß. Ein solches Erdbeben hat es in Kurdistan und der Türkei wahrscheinlich seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben. Die Behörden versuchen, das Ausmaß des Erdbebens zu beschönigen. Die Zahl der Todesopfer wird zu gering angegeben. Natürlich wollen auch wir, dass es weniger Tote und weniger Zerstörung gibt. Aber wir müssen die Fakten offenlegen, damit Gesellschaft und Menschheit eine stärkere Solidarität entwickeln können. Zehntausende haben ihr Leben verloren. Es gibt ebenso viele Verletzte. Zehntausende von Häusern wurden zerstört. Diese Realität auszublenden, bedeutet, das Ausmaß des Erdbebens zu beschönigen. Das schwächt ernsthafte Maßnahmen, die aufgrund des Erdbebens durchgeführt werden müssen. So etwas zu tun, um die Menschen nicht in Panik zu versetzen, ist falsch. Tatsächlich versucht der türkische Staat auf diese Weise, die Wahrheit über sich selbst zu verschleiern. Die türkische Regierung will ihre Verantwortung für diese Katastrophe verheimlichen. Sie versucht, die Tatsache zu verbergen, dass sie keine Maßnahmen gegen Zerstörung durch Erdbeben ergriffen hat. Wir verurteilen dieses Vorgehen aufs Schärfste.“ Karasu unterstreicht, dass das AKP/MHP-Regime so seine eigene Situation zu erleichtern versuche. Er ruft dazu auf, sich nicht vom Regime täuschen zu lassen und auf allen Ebenen Hilfe zu mobilisieren.
„AFAD selbst ist bei diesem Erdbeben zusammengebrochen“
Gleichzeitig kritisiert Karasu die ausbleibende Hilfe in der Region und wirft der Katastrophenschutzbehörde AFAD vor, nur eine „Scheininstitution“ zu sein. Er fährt fort: „Die Zerstörung ist gewaltig. Aber die staatliche Organisation namens AFAD ist nicht in der Lage, ausreichend Hilfe zu leisten. AFAD selbst ist bei diesem Erdbeben zusammengebrochen. Es hat sich herausgestellt, dass es sich bei AFAD um eine reine Show-Organisation handelt. Wenn es ein kleines Erdbeben gegeben hätte, hätte AFAD vielleicht zeigen können, dass die Behörde etwas unternimmt, dass sie ihre Aufgabe erfüllt. Doch nun sind mehr als zehn Provinzen, darunter auch Städte in der Türkei, aber insbesondere in Kurdistan, bei diesem Erdbeben zerstört worden. Tausende Dörfer wurden zerstört und verwüstet. AFAD ist natürlich nicht in der Lage, hierauf zu reagieren. Der Behörde fehlt die Organisierung dafür. Der Staat stellt keine Mittel dafür zur Verfügung und investiert nicht in den Aufbau solcher Organisationen. Es geht dem Regime nur darum, seine eigene Klientel, seine Unterstützer reich zu machen. Es gab überhaupt keine Vorkehrungen. Nach dem Erdbeben von 1999 wurde zwar eine Erdbebensteuer eingeführt und es wurden zehn Milliarden Dollar dadurch eingenommen. Mit dieser Steuer hätte AFAD besser aufgebaut werden können. Die Kommunen hätten in dieser Hinsicht besser ausgestattet werden können und dann wäre in so einer Situation ein Katastropheneinsatz möglich gewesen.
Es ist nicht einfach, bei solchen Katastrophen aus der Ferne zu helfen. Die Kommunen sollten in dieser Hinsicht auf lokaler Ebene stark organisiert sein. Denn sie können bei einer Katastrophe sofort intervenieren. Aber AFAD wurde nur zur Show aufgebaut und ist nun zusammengebrochen. AFAD ist nirgendwo präsent. Vielleicht wurden einige Leute in ein oder zwei Provinzen geschickt. Ist das genug? Wie sollen sie zehn Provinzen, Hunderte von Städten und Tausende von Dörfern erreichen? AFAD ist dazu weder organisatorisch noch auf der Ebene seiner Ressourcen in der Lage.
„Der Staat selbst ist unter dem Erdbeben begraben“
Der Staat selbst ist unter dem Erdbeben begraben worden, er ist in sich zusammengebrochen. Der Staat ist für die Todesopfer verantwortlich. Denn die Menschen sagen im Fernsehen, dass es dort keine Kräfte von AFAD gibt, keine Hilfe organisiert wird. Was wird passieren? Die Hilfe wird in drei oder vier Tagen kommen. Es wird Hilfe aus aller Welt kommen. Das Wichtige ist aber, dass Rettungsteams jetzt sofort vor Ort mobilisiert werden.“
„Die Erdbebensteuer wurde veruntreut“
Karasu kritisiert, dass die Einnahmen aus der Erdbebensteuer veruntreut und unter den Anhängern des Regimes verteilt wurden. Er sagt: „Sie haben mit dem Geld irgendwelche Straßen oder irgendetwas anderes gebaut. Das ist ein Verbrechen. Das Geld wurde nach dem Gesetz für Vorkehrungen gegen die Folgen von Erdbeben eingezogen. Es ist ein Verbrechen, das Geld für etwas anderes zu nehmen. Ganz abgesehen von der juristischen Frage handelt es sich um ein moralisches Verbrechen.“
„Staatliche Institutionen können solche Katastrophen nicht überwinden“
Statt auf den versagenden Staat zu vertrauen, müsse die Gesellschaft selbst Solidarität aufbauen, sagt Karasu und appelliert: „Solche Katastrophen und Unglücke werden durch die Solidarität der Gesellschaft überwunden. Staatliche Institutionen können sie nicht überwinden. Im Laufe der Geschichte haben die Menschen solche Erdbeben und Katastrophen durch die Solidarität von Nachbarschaften und ihrer Umgebung überwunden. Jetzt gibt es einen zentralisierten Staat. Man hat einige Scheininstitutionen geschaffen. Als die Katastrophe geschah, brachen diese zusammen. Der Staat ist solchen Katastrophen gegenüber hilflos. Das ist offensichtlich.“
Karasu wirft dem Staat vor, auch die gesellschaftliche Solidarität zu behindern, so würden immer wieder zivilgesellschaftliche Transporte von Zelten, Decken und Hilfsgütern in die Krisengebiete aufgehalten. Der Staat versuche trotz seines Versagens, die Hilfe auf sich zu konzentrieren, um daraus Kapital zu schlagen. Karasu wirft dem Staat auch die Behauptung vor, dass die eigenen Mittel im Katastrophenschutz ausreichten. Der Staat habe jeden als Verräter gebrandmarkt, der im Ausland um Hilfe bat. Jetzt habe der Staat aber seine Türen der internationalen Gemeinschaft öffnen müssen, da er selbst hilflos sei. Die nationalistische Propaganda sei jetzt in sich zusammengebrochen.
„Das Potential liegt in der Gesellschaft und nicht beim Staat“
Karasu weiter: „Die Solidarität und Organisierung der Gesellschaft ist das Entscheidende. Die Gesellschaft findet eine echte Lösung. Das müssen wir begreifen. Das Potential der Gesellschaft liegt in der Heilung aller Arten von Wunden. Die Menschen in Kurdistan sind organisiert und bewusst. Sie gehen selbst gegen die Folgen der Katastrophen vor. Wir sollten nicht zu viel vom Staat erwarten. Der Staat wurde nicht für die Gesellschaft gegründet, er ist eine Struktur, um die Gesellschaft auszubeuten, um sie zu unterdrücken. Insbesondere beim türkischen Staat handelt es sich um ein autoritäres, faschistisches System. Es ist ein Kriegsregime. Ein Teil der Erdbebengelder floss in den Straßenbau, ein anderer Teil in den Krieg. Es wurde für den Krieg ausgegeben. Der Staat rühmt sich seiner militärischen Macht, seiner Drohnen und seiner Kriegsmittel. Aber bei einem Erdbeben kann er die Menschen nicht retten. Er kann ihre Wunden nicht heilen.“
„Die ersten Tage sind entscheidend“
Karasu warnt aufgrund der niedrigen Temperaturen, von teilweise unter -15 Grad: „Die ersten Tage sind entscheidend. Das Wetter ist im Moment sehr kalt. Überall, wo wir hinsehen, heißt es, die Hilfe von AFAD oder anderen Einrichtungen sei nicht angekommen. Höchstens zur Show. AFAD fährt zu ein oder zwei Gebäuden in einer Stadt und führt Bergungsarbeiten durch. Was ist mit den anderen Gebäuden? Hunderte von Wohnblöcken stürzten ein. Gurgum (tr. Maraş), Elbistan, Avşîn, Narli, Koksen (Göksun), Meletî, Semsûr (Adıyaman) und die umliegenden Dörfer wurden allesamt zerstört. Die meisten der alten Häuser sind eingestürzt. Wer also wird hier die Rettung übernehmen? Die Organisierung des Gesellschaft wird angegriffen, die Solidarität verhindert und kriminalisiert, aber der Staat unternimmt selbst nichts. Das kann so nicht sein. Vor diesem Hintergrund sollte die Gesellschaft, statt sich zu beschweren und ohne auf den Staat zu warten, überall ihre eigenen Solidaritätsstrukturen organisieren. Wir sagen dies, um die Realität des Staates aufzuzeigen.“
„Solidarität ohne Unterschied notwendig“
Karasu spricht über die Schäden und Toten in Nordkurdistan, Rojava, Syrien und der Türkei und sagt: „Unser Volk sollte überall solidarisch sein, in Bakur, in Syrien, in Rojava. Ohne zwischen Araber:innen, Türk:innen, Kurd:innen und Suryoye zu unterscheiden, sollte das kurdische Volk allen Katastrophenopfern helfen und beistehen.“
„Diaspora muss sich verantwortlich zeigen“
Karasu berichtet aus seiner eigenen Erfahrung in der Region: „Ich kenne die Gegend genau. Ich kenne die Landschaft und die Bauweise der Häuser. Ich weiß, wie unwegsam und kalt die Region im Winter ist. Früher konnten Fahrzeuge sechs Monate lang nicht in unsere Dörfer fahren. Sie konnten nur mit Schlitten erreicht werden. Und jetzt ist die Zerstörung in Avşîn, Elbistan, Markaz, Narli und Umgebung, an Orten wie Muhacîr (tr. Doğanşehir), Arxa (Akçadağ) und Semsûr wirklich gewaltig. Es gab auch Zerstörungen in Riha (Urfa) und Amed (Diyarbakır), aber die Zerstörung ist westlich des Euphrat größer. Daher denke ich, dass die Solidarität unseres Volkes mit den Menschen, die in diesen Gebieten am Epizentrum leben, besonders groß sein sollte, und dass diese Gebiete wieder aufgebaut werden müssen. Viele Menschen aus Markaz, Elbistan und Avşîn, die in Europa leben, können den Aufbau unterstützen. Ein großer Teil unseres Volkes im Südwesten Kurdistans ist bereits nach dem Maraş-Massaker [1978] nach Europa ausgewandert. Einige von ihnen leben auch in den Großstädten. Sie sollten heute die Wunden heilen und die zerstörten Dörfer wieder aufbauen. Sie sollten die Region wieder zu einem Ort des Lebens machen. Sie tragen diese Verantwortung.“
„Es gibt keine Hilfskräfte in den Dörfern, es gibt keine Solidarität“
Karasu alarmiert: „Es gibt keine Hilfskräfte in den Dörfern, es gibt keine Solidarität. Nur zwischen den Nachbardörfern hat sich eine gewisse Solidarität entwickelt. Jetzt sind alle in einer schlechten Situation. Alle haben selbst mit der Katastrophe zu kämpfen. Natürlich sollten die Nachbardörfer, die gut erhaltenen und die weniger zerstörten Dörfer den anderen helfen. Es gibt bereits Aufrufe. Alle zivilgesellschaftlichen Organisationen und demokratischen Kräfte in der Türkei rufen dazu auf. Wir haben es auch getan. Die Menschen sollten, wenn sie die Möglichkeit haben, diejenigen, die vom Erdbeben betroffen sind, bei sich aufnehmen. Niemand sollte hungrig und ungeschützt zurückgelassen werden, alle sollten ihr Essen teilen. Alle sollten alles teilen. Und natürlich von Orten, an denen es keine Erdbeben gibt, von Marmara, der Ägäis, von überall her muss Hilfe in die Gebiete fließen. Die Hilfe sollte auch vom Schwarzen Meer aus erfolgen.“
„In solchen Momenten zeigt sich die Menschlichkeit“
Karasu ruft zur Unterstützung des Wiederaufbaus der Region auf: „Das kurdische Volk und die Völker der Türkei sollten als Einheit ein Beispiel der Solidarität abgeben. Die Geschwisterlichkeit wird in solchen Momenten offensichtlich. In solchen Momenten zeigt sich die Bedeutung des Zusammenlebens, in solchen Momenten zeigt sich die Menschlichkeit.“