Die Opferzahlen des Erdbebens in Nordkurdistan, der Türkei, Rojava und Syrien steigen weiter. Mittlerweile werden über 5.000 Todesopfer verzeichnet. Das AKP/MHP-Regime hat in den zehn betroffenen Provinzen den Notstand verhängt. Bereits am Montagmorgen machten sich Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ins Katastrophengebiet auf. Obwohl der heutige Tag besonders kritisch ist, da die Überlebenschancen von Verschütteten immer schneller abnehmen, finden offenbar kaum Rettungsarbeiten statt. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) warnt bereits, die Zahl der Opfer könne bis auf 20.000 weiter ansteigen.
Orhan: Die Menschen sind ihrem eigenen Schicksal überlassen
Die HDP-Abgeordnete Muazzez Orhan berichtete aus Avasîm (tr. Islahiye) in der nordkurdischen Provinz Dîlok (Antep), dass sich die Menschen mit eigenen Mitteln und Möglichkeiten zu retten versuchen. Orhan erklärte vor einem eingestürzten achtstöckigen Gebäude stehend: „Es sind immer noch keine Rettungskräfte eingetroffen. Der größte Teil von Avasîm befindet sich in der gleichen Situation. Die Menschen sind am Ende. Es besteht ein gravierender Mangel an Hilfe. Die Menschen sind verzweifelt, es wird dringend Hilfe benötigt. Die Grundbedürfnisse wie Wasser, Windeln, Babynahrung, Hygieneartikel für Frauen und Lebensmittel müssen abgedeckt werden. Die Menschen sind ihrem eigenen Schicksal überlassen.“
Bülbül: Kein Staatsvertreter, kein AFAD – es ist einfach niemand da
Der HDP-Abgeordnete Kemal Bülbül befindet sich in Semsûr (Adiyaman). Er berichtet aus dem Stadtteil Cumhuriyet, dass viele Menschen unter den eingestürzten Gebäuden verschüttet sind. Bülbül sagt: „Ich bin seit gestern Morgen um acht Uhr hier. Drei Stunden nach dem Erdbeben kam ich hierher, und seitdem ist weder AFAD, noch irgendein Beamter, Gemeindevertreter, Militär oder Militärpolizist hier zu sehen gewesen. Es gibt keine staatlichen Hilfen, keine Nahrung oder Wasserversorgung. Das Wetter ist kalt und regnerisch. In der Nacht kam es zu Nachbeben. Die Menschen müssen draußen bleiben. Ich rufe von hier aus laut: Wir brauchen die Unterstützung unserer Mitbürger:innen und humanitäre Solidarität. Hilfe! Wir müssen die Haltung und das Verhalten der Regierung offen anprangern. Es gibt keine Hilfe für die Bürger:innen, keine Trümmerbeseitigung, keine Rettung der Menschen, die unter den Trümmern eingeschlossen sind. Ich weiß nicht, wie viele Menschen unter dem Gebäude, vor dem ich stehe, begraben sind. Wir hören ihre Stimmen und die Menschen hier versuchen, sie mit eigener Kraft zu retten.“
„Vier meiner Töchter sind gestorben“
Die HDP-Abgeordneten Abdullah Koç und Şevin Çoşkun befinden sich ebenfalls in Semsûr. Koç erklärte vor einem eingestürzten Gebäude im Viertel Kayalık: „Von den offiziellen Behörden kam niemand. Die Menschen führen hier Such- und Rettungsaktionen aus eigener Kraft durch.“ Eine Frau unterbricht die Erklärung und zählt die Namen von sechs Verschütteten auf. Sie sagt: „Ich schrie, schrie und schrie. Sie hatten zu mir gesagt, geh, wir kommen nach. Wir sind am Ende. Vier meiner Töchter sind gestorben. Gibt es noch etwas zu sagen? Sechs Personen aus einer Familie sind tot. Es ist niemand zur Hilfe gekommen. Vielleicht wäre eine von ihnen wenigstens gerettet worden.“
Paylan: „Ein Kampf gegen die Zeit und die Kälte“
Der HDP-Abgeordnete Garo Paylan hält sich in Rezan (tr. Bağlar) auf. Er berichtet, dass viele Menschen versuchen, Verschüttete auszugraben. Er erzählt, wie am Morgen eine Person gerettet werden konnte und berichtet über die Rettungsarbeiten: „Von Zeit zu Zeit wird die Arbeit angehalten, um zu hören, ob ein Geräusch vernehmbar ist, und die Arbeit wird in Richtung der Stelle intensiviert, von der das Geräusch kommt. Auf der anderen Seite warten die Familien weiterhin bange. Alle warten voller Hoffnung auf die Rettung ihrer Angehörigen. Es ist ein Kampf gegen die Zeit und die Kälte, denn die Zeit ist nicht unser Freund. Die Familien und ihre Angehörigen unter den Trümmern haben bis jetzt 36 Stunden in der Kälte verbracht. Der heutige Tag ist sehr kritisch. Die diesbezüglichen Arbeiten wurden intensiviert. In den Hochhäusern in der Nachbarschaft kann sich niemand aufhalten. Es gibt ein ernstes Unterbringungsproblem. Etliche Einwohner:innen haben Amed in Richtung anderer Städte verlassen. Alle Häuser sind beschädigt, keines von ihnen ist bewohnbar. Die Häuser stehen alle leer. Es müssen sofort Zelt- und Containerstädte eingerichtet werden. Manche Familien kamen vorübergehend in den Häusern von anderen unter. Sie versuchen, in stabil erscheinenden Häusern Schutz zu suchen. Wir kämpfen gegen die Zeit und die Kälte. Wir sind solidarisch, aber wir müssen die Mobilisierung an jeder Stelle verstärken.“
Hatimoğulları: Tausende Verschüttete
Die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları befindet sich in Hatay. Sie berichtet ebenfalls von ausbleibenden Bergungsarbeiten. Sie sagt: „Obwohl seit dem größten Erdbeben, das die Türkei je erlebt hat, bereits 24 Stunden vergangen sind, wurden keinerlei Hilfs-, Such- oder Rettungsmaßnahmen durchgeführt. Ich bin von Erzin nach Samdağ in Hatay gefahren, aber wir konnten nicht einmal einen zuständigen Beamten auf der Straße sehen. Die Situation ist beklagenswert. Weder humanitäre Hilfe noch Suchmannschaften haben die Region bisher erreicht. Hunderte, vielleicht Tausende von Menschen liegen jetzt unter den Trümmern. Wie in der Vergangenheit wird dieser Ort weiterhin als zweite Klasse behandelt. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die humanitäre Hilfe so schnell wie möglich eintrifft und Such- und Rettungsmaßnahmen eingeleitet werden. In diesem Zusammenhang fordern wir alle, insbesondere die Behörden, zur Mitarbeit auf. Es ist einfach zu viel. Die Menschen werden hier de facto im Stich gelassen. Das ist nicht akzeptabel. Die Menschen sterben, aber es herrscht nur Verantwortungslosigkeit.“