Auf der ersten Fraktionssitzung nach der parlamentarischen Sommerpause hat der HDP-Vorsitzende Mithat Sancar mit scharfen Worten die Behauptung des türkischen Staatschefs Tayyip Erdogan zurückgewiesen, dass die kurdische Frage inzwischen gelöst sei.
Sancar ging in seiner Rede zunächst auf die vergangene Woche von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) veröffentlichte „Roadmap für Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden“ ein. Das wegweisende Positionspapier wurde im Rahmen der Kampagne „Wir sind die HDP, wir sind überall“ gemeinsam mit der Parteibasis erarbeitet und formuliert neben Perspektiven und Zielen der künftigen Strategie der HDP auch eine engagierte Darstellung der Schwierigkeiten, mit denen sich demokratische Kräfte in der Türkei auseinandersetzen müssen.
Zudem enthält die Roadmap konstruktive Lösungsansätze für die Überwindung der Krisen und eine Demokratisierung des Landes. Wie Sancar ausführte, hat die HDP die Sommerpause dafür genutzt, in Dörfern, Städten und Gemeinden in allen Landesteilen mit Menschen aus allen Bereichen des Lebens zusammenzutreffen und über Lösungen für politische, wirtschaftliche und soziale Probleme zu diskutieren. Damit sei ein neuer Anfang gemacht worden: „Wir sind hoffnungsvoll, entschlossen, mutig, überzeugt und beharrlich.“
Zum drohenden Verbot seiner Partei erklärte Sancar, dass das Verfahren in Unkenntnis der Tatsache eingeleitet worden sei, dass die HDP eine „gedankliche Bewegung und Veränderungskraft“ sei: „Wir sollen mit juristischen Intrigen und einer Politik der Unterdrückung und Gewalt eingeschüchtert werden, aber diese Bemühungen sind umsonst. Das hat unsere Kampagne den ganzen Sommer lang gezeigt. Die HDP setzt ihren Weg mit der Kraft, Überzeugung und Verantwortung fort, die sie von der Bevölkerung bekommt.“
Jetzt gehe es darum, mit der politischen Opposition über die Sicherheit der kommenden Wahlen und die Übergangsphase zu sprechen. Die Beratungsthemen reichten vom Aufbau eines dezentralisierten demokratischen Systems bis hin zum Frieden. „Denn das ist es, was die Türkei braucht und was die Bevölkerung erwartet. Es geht darum, das verrottete System zu verändern und die Menschen aus Armut und Schande zu befreien“, so der Ko-Vorsitzende der HDP.
Kurdische Frage in allen Dimensionen gelöst?
Weiter erklärte Sancar, dass die erste Parlamentssitzung nach der Sommerpause am 1. Oktober erneut mit der Verleugnung der kurdischen Frage begonnen habe: „Wir sagen, dass die kurdische Frage eines der Hauptprobleme dieses Landes ist. Der Regierungschef und AKP-Vorsitzende hat diese Frage in seiner Rede verleugnet. ,Wir haben das als kurdische Frage bezeichnete Problem von Rechten und Freiheiten bis hin zum Aufschwung mit allen Dimensionen gelöst', hat er gesagt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle mit leicht verständlicher Schlichtheit für Aufklärung sorgen. Vor einem Jahr hat der AKP-Vorsitzende im Parlament noch nicht davon gesprochen, dass er die kurdische Frage gelöst habe. Erst neulich hat er in Diyarbakir behauptet, dass nicht er den Lösungsprozess beendet habe. Damit hat er sowohl die eigene Verantwortung geleugnet als auch zugegeben, dass es einen nicht abgeschlossenen Prozess gegeben hat. Dieser einseitig beendete Prozess ist mit Kriegspolitik, Verleugnung und Vernichtung fortgesetzt worden. Und jetzt heißt es, die kurdische Frage sei gelöst worden.
Wie also soll das Problem innerhalb eines Jahres gelöst worden sein, ohne dass es jemand mitbekommen hat? Warum sind Tausende gewählte Politikerinnen und Politiker im Gefängnis? Wie soll eine Lösung möglich sein, wenn ein Drittel der Wählerstimmen nicht zählen? Ist die Zwangsverwaltung eine Lösung? Wenn die kurdische Frage gelöst ist, warum patrouillieren Panzerwagen durch kurdische Städte und überfahren Kinder?
Ist die Kriegspolitik kein eindeutiger Beweis für die Lösungsunfähigkeit der Regierung? Wenn es wirklich um eine Lösung geht, haben diese Panzer dort nichts verloren. Stattdessen muss dort Raum geschaffen werden für ein freies Zusammenleben aller Identitäten.“