Fast fünf Jahre nach seinem Tod beginnt am heutigen Mittwoch in der kurdischen Stadt Amed (türk. Diyarbakir) der Prozess im Mord an dem Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi. Der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer Amed war am 28. November 2015 im Altstadtbezirk Sûr während einer Pressekonferenz, auf der er vor dem Hintergrund der Ausgangssperren und Militäroperationen der türkischen Armee zu Frieden aufrief, erschossen worden.
Schon bald darauf machte die Regierung die PKK für das Attentat verantwortlich, diese dementierte eine Mittäterschaft. Weil auch die Beweisaufnahme in Amed und das Expertengutachten unzureichend waren – die Tatortbegehung fand erst 111 Tage nach dem Mord an Tahir Elçi statt – wandte sich die Rechtsanwaltskammer Amed an das Kollektiv „Forensic Architecture“ von der Goldsmiths-Universität in London. Anhand einer 3-D-Rekonstruktion konnte die Recherchegruppe die Verdächtigen im Mordfall Tahir Elçi ausfindig machen: drei Polizisten.
Der Prozess findet vor der 10. Strafkammer des Schwurgerichtshofs in Amed statt und beginnt um 10 Uhr Ortszeit (9 Uhr MEZ). Die Anklage wirft den Polizisten F.T., M.S. und S.T. Totschlag vor und fordert ein Strafmaß zwischen mindestens zwei und maximal sechs Jahren. Der Tod Elçis sei auf eine „bewusste Fahrlässigkeit“ zurückzuführen, begründet die Generalstaatsanwaltschaft ihre Anklage.
Mit Uğur Yakışır, einem Mitglied der Zivilen Verteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Sivîl, YPS), der am Todestag von Elçi in unmittelbarer Nähe der Altstadtgasse zwei Polizisten erschossen hatte, ist auch eine vierte Person in dem Verfahren angeklagt. Für ihn fordert der Oberstaatsanwalt jeweils dreimal lebenslänglich plus weitere 45 Jahre Haft wegen „Mord an Tahir Elçi“, „Mord an zwei Polizeibeamten“ und der versuchten Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates, obwohl er nachweislich nicht auf Elçi geschossen hat. Die Rechtsanwaltskammer Amed und die Tahir-Elçi-Stiftung kritisieren die Anklageschrift scharf. Sie basiere größtenteils auf offensichtlichen Unwahrheiten und diene lediglich dazu, die Wahrheit zu verschleiern und das Bewusstsein der Straflosigkeit zu festigen.
Uğur Yakışır seit 2016 bei der Guerilla
Die angeklagten Polizisten werden nicht persönlich vor Gericht erscheinen. Bereits bei der Anklageerhebung im April war angeordnet worden, dass sie über das Videoliveschaltungssystem SEGBIS in die Verhandlung eingebunden werden. Uğur Yakışır wird ebenfalls nicht im Gerichtssaal sein: Er hatte bereits im Jahr 2016 die Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan erreicht und sich dort der Guerilla angeschlossen.