Prozess gegen Kenan Ayaz: Leerstellen und falsche Ausführungen

Ein Sachverständigengutachten zur kurdischen Frage kann den Vertrag von Lausanne nicht übergehen. Auf diesen und weitere Mängel macht der kurdische Politiker Kenan Ayaz im PKK-Prozess vor dem OLG Hamburg aufmerksam.

Der Prozess gegen den kurdischen Politiker Kenan Ayaz vor dem Oberlandesgericht Hamburg ist am Montag mit dem zweiten Teil der Erklärung des Angeklagten zum Gutachten des Sachverständigen Dr. Günter Seufert fortgesetzt worden. Dabei wurden ungenügend betrachtete Ereignisse beleuchtet und falsche Ausführungen richtig gestellt, von denen hier einige beispielhaft dargestellt werden:

Vertrag von Lausanne als elementarer Bestandteil der kurdischen Frage

Kenan Ayaz wies in seiner Erklärung auf Leerstellen und falsche Angaben des Sachverständigen Dr. Seufert hin und korrigierte diese. Die Vorsitzenden Richterin Wende-Spors konnte und wollte die Notwendigkeit der historisch-politischen Ausführungen und Einordnungen offenbar nicht akzeptieren und unterbrach den Angeklagten erneut mehrfach.

Ayaz kritisierte, dass der Sachverständige den Lausanner Vertrag in seinem Gutachten mit nur einem Satz erwähnt. Dem Abkommen komme in der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gegen die Kurd:innen eine herausragende Bedeutung zu, denn „einerseits bereitete dieser Vertrag den Boden für die Gründung der Republik Türkei, andererseits leitete er den Prozess des Völkermordes an den Kurdinnen und Kurden ein, da er ihre Verleugnung beinhaltete”.

Mit der Unterzeichnung des Vertrages am 24. Juli 1923 in Lausanne u.a. durch Großbritannien, Frankreich und der Türkei wurde de facto die Regierung der türkischen Nationalversammlung von den Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs offiziell anerkannt – drei Monate später wurde die Republik Türkei gegründet. Festgelegt wurde außerdem, Kurdistan auf die vier Staaten Türkei, Syrien, Irak und Iran aufzuteilen. Laut Ayaz machten sich die unterzeichnenden Staaten zu „Komplizen des Völkermordes an den Kurden“, der noch immer nicht abgeschlossen sei.

Er wies zudem darauf hin, dass eben jener Vertrag nicht aus dem Nichts gekommen sei, wie die kurze Erwähnung von Dr. Seufert annehmen lasse. Stattdessen sei ihm „ein langer Prozess politischer und militärischer Auseinandersetzungen vorausgegangen”.

Von besonderer Bedeutung ist hier der Erste Weltkrieg und mit dessen Ende der Untergang des Osmanischen Reiches sowie der Widerstand der kemalistischen Bewegung gegen die alliierten Besatzungsmächte. Getragen wurde dieser Widerstand vor allem durch die Osmanische Armee in Kurdistan sowie die Unterstützung der Kurden. Verständlich, dass Mustafa Kemal, der spätere Gründer der Republik Türkei, diese Unterstützung aufrechterhalten wollte. Es erscheint deshalb offensichtlich, dass kurdische Abgeordnete in der Nationalversammlung vertreten waren und in deren erster Verfassung von 1921 den Kurd:innen „Autonomie“ gewährt wurde.

Dass die Kurd:innen ein wesentlicher Faktor waren, wird auch daran deutlich, dass die an den Verhandlungen in Lausanne teilnehmende Delegation aus Ankara sich als „gemeinsame Delegation von Türken und Kurden“ verstand. Doch letztlich obsiegte das Türkische der Delegation, die „Existenz und der politische Status der Kurden wurden negiert“, indem sie im Vertrag von Lausanne nicht erwähnt wurden. Die Kurd:innen hatten nun offensichtlich ihren Dienst geleistet, man brauchte sie nicht mehr. Die am 29. Oktober 1923 ausgerufene Republik Türkei berief sich nicht auf Pluralität, sondern auf Einheit. Dies schlug sich auch in der zweiten Verfassung von 1924 nieder, in der all jene Passagen gestrichen wurden, die die Rechte der Kurd:innen betrafen.

Den Gutachter kritisierend erklärte Kenan Ayaz: „Auch nach einhundert Jahren muss dieser Vertrag, der die Vernichtung des kurdischen Volkes durch die Nichtanerkennung seiner Existenz und damit seiner politischen und demokratischen Rechte beinhaltet, elementarer Bestandteil einer jeden wissenschaftlichen Behandlung der kurdischen Frage sein. Die Beschäftigung mit dieser Frage können sich in politischer Hinsicht die damaligen Unterzeichnerstaaten, inhaltlich aber auch kein Sachverständiger ersparen.“

Eine moderne und fortschrittliche Republik?

Dem Widerstand der Kurd:innen gegen die assimilatorische und genozidale Politik und dem Einfordern der Rechte auf Gleichheit und Freiheit, die ihnen im nationalen Befreiungskrieg versprochen worden waren, wurde mit Gewalt begegnet. Das Kurdentum und seine Kultur sollten zerstört werden, die Kurd:innen zur Flucht gezwungen, wirtschaftlich ausgebeutet und die Ressourcen Kurdistans geplündert werden. Die kurdischen Aufstände zwischen 1925 und 1940 wurden und werden in der Türkei als rückständig und gegen die Republik eingeordnet – letztlich deshalb, um ihre Niederschlagung legitimieren zu können. Diesem Argumentationsmuster folgte auch der Sachverständige in seinen Ausführungen zum Aufstand von 1925 unter der Führung von Scheich Said. Um dieses aufzudecken, führt Kenan Ayaz ein Zitat des damaligen türkischen Generalstabschefs İsmet İnönü an, der die Niederschlagung des Aufstandes befahl: „Stellt diese Bewegung Europa und der Außenwelt als eine reaktionäre, bigotte, religiöse Bewegung dar, damit sie sie nicht als eine nationale kurdische Bewegung wahrnehmen.“

Es stellte sich für Kenan Ayaz die Frage, wie der Gutachter eine solche Republik als „sehr modern und fortschrittlich“ bezeichnen könne. Denn diese habe auch den Völkermord an den Armenier:innen, Assyrer:innen und Griech:innen zu verantworten. Und auch wenn in den vergangenen hundert Jahren die Regierungen wechselten und Militärputsche stattgefunden haben, so habe sich die „Hauptideologie und die Strategie der Republik Türkei“ nicht geändert, so Ayaz:

„Die Türkei ist zu einem militarisierten Staat geworden, dessen Mob von rassistischen nationalistischen Wahnvorstellungen geprägt ist und der jeden zweiten Tag Bomben auf kurdisches Gebiet regnen lässt.“ Der Angeklagte kam deshalb zu dem Schluss, dass eine solche Politik nicht als demokratisch bezeichnet werden kann. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der türkische Staat versuche, „den Vertrag von Lausanne durch den NATO-Vertrag zu ersetzen und den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden im zweiten Jahrhundert auf dieser Grundlage fortzuführen“.

Das System der Dorfschützer als bewährtes Instrument der Spaltung

Weiter kritisierte Ayaz, der Gutachter Dr. Seufert habe den Eindruck erweckt, dass erstmals mit Beginn des bewaffneten Kampfes der PKK 1984 Dorfschützer vom türkischen Staat eingesetzt wurden. Doch das „System der Dorfschützer ist in der kurdischen Gesellschaft nicht neu“, betonte der Angeklagte. Bereits seit 1870er Jahren wurde eben jene Methode auf die armenisch-kurdischen und die kurdisch-syrischen Beziehungen angewandt. Es ging darum, einen Keil zwischen diese Bevölkerungsgruppen zu treiben, um eine „Teile und herrsche“-Politik zu etablieren. Beispielsweise wurden Anfang der 1890er Jahre die „Hamidiye-Regimenter“ gebildet, welche als eine frühe Form des Dorfschützersystems betrachtet werden können. Innerhalb dieser Regimenter waren neben Jungtürken auch kurdische Feudalherren für den Genozid an den Armenier:innen verantwortlich. Doch sie wurden auch gegen die aufkommende kurdische Nationalbewegung eingesetzt. Dadurch erlitt die „kurdische nationale demokratische Bewegung, die sich hätte entwickeln können, […] einen schweren Schlag. Darüber hinaus wurden die Stämme durch ihre Beziehungen untereinander zu Feinden. […] In der kurdischen Gesellschaft repräsentieren die Dorfschützer das kollaborierende und verratene Kurdentum. Die PKK hingegen ist eine Bewegung der Rebellion, des Kampfes und des Befreiungskrieges des kurdischen Volkes gegen Verleugnung, Massaker und Völkermord.“

Kenan Ayaz wird seine Kritik am Gutachten des Sachverständigen Dr. Seufert am nächsten Prozesstermin am 11. März abschließen.

Ausweiskontrolle für Prozessbesucher:innen

Aufgrund eines richterlichen Beschlusses werden aktuell die Ausweise von Besucher:innen kopiert. Hintergrund ist, dass die Vorsitzende Richterin die durch Klatschen ausgedrückte Solidarität gegenüber dem Angeklagten nicht ohne Weiteres duldet.

Weitere Verhandlungstermine sind:

Montag, 11.3.2024

Dienstag, 12.3.2024;

Mittwoch, 20.3.2024;

Dienstag, 9.4.2024, ab 13 Uhr;

Mittwoch, 17.4.2024;

Freitag, 19.4.2024;

Mittwoch, 24.4.2024.

Der Prozess findet im 1. Stock des OLG am Sievekingplatz 3 statt, entweder in Saal 237 oder 288, die Verhandlungen beginnen in der Regel um 9:30 Uhr.

Postadresse und Spendenkonto

Auf der Seite kenanwatch.org werden Informationen in den Sprachen Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland angeboten. Kenan Ayaz freut sich über Post. Briefe können auch in anderen Sprachen als Kurdisch oder Türkisch geschrieben werden, da eine Übersetzung gewährleistet ist. Zu beachten ist die Schreibweise des Behördennamens „Ayas“, damit die Briefe auch zugestellt werden.

Kenan Ayas
Untersuchungshaftanstalt Hamburg
Holstenglacis 3
20355 Hamburg

Spendenkonto:
Rote Hilfe e.V. OG Hamburg
Stichwort: Free Kenan
IBAN: DE06200100200084610203