Kenan Ayaz: Die Richterinnen sind befangen

Im §129b-Verfahren gegen Kenan Ayaz vor dem OLG Hamburg hat die Verteidigung einen Befangenheitsantrag gestellt. Ayaz habe das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Richterinnen verloren.

Vor dem Oberlandesgericht Hamburg fand am Dienstag, den 6. Februar, ein weiterer Hauptverhandlungstag im PKK-Prozess gegen Kenan Ayaz statt. Die Verteidigung lehnte die drei Richterinnen als befangen ab. Kenan Ayaz habe das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Richterinnen verloren, weil diese die Versuche der politischen Einflussnahme auf das Verfahren durch den türkischen Staatspräsidenten Erdoǧan aus dem Verfahren heraushalten wollten.

Der Tag begann damit, dass das Gericht zahlreiche Anträge der Verteidigung, die sich unter anderem mit den Friedensverhandlungen und den völkerrechtswidrigen Invasionen der Türkei in den Nordirak und nach Rojava befassten, ablehnte. Das Gericht habe durch den Sachverständigen Dr. Seufert insofern ausreichende Kenntnisse über diese Geschehnisse. Auch ein Antrag, zwei Zeitungsartikel zu den Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen 2009 in Agirî (tr. Aǧrı), die dem Kandidaten der DTP die Mehrheit gekostet hatten, wurde abgelehnt, obwohl Kenan Ayaz bei den Protesten gegen diese Wahlfälschungen festgenommen worden war. Das Gericht sagte, es sei ihm bereits bekannt, „dass der Angeklagte einer Volksgruppe angehört, die bei der Wahrnehmung ihrer kulturellen Identität und ihrer politischen Handlungsfähigkeit zahlreichen Einschränkungen ausgesetzt“ sei. Mit dieser Formulierung von den „Einschränkungen“ zeigte das Gericht, wie wenig es von dem Ausmaß der Repression verstanden hat, der die Kurd:innen durch die Türkei ausgesetzt waren und sind.

Schließlich wurde auch der Antrag vom 10. Januar 2024, einen Zeitungsartikel aus der FAZ vom 19. November 2023, in dem sich Erdoğan unabstreitbar zum PKK-Verfahren in Hamburg und damit zum Fall von Kenan Ayaz äußert, zu verlesen, abgelehnt. Im besagten Artikel heißt es: „Der Besuch in der deutschen Hauptstadt habe „ein neues Kapitel unserer tiefgreifenden Beziehungen eröffnet“, äußerte Erdoğan. Er zeigte sich erfreut über einen Strafprozess vor dem Oberlandesgericht in Hamburg gegen einen mutmaßlichen Funktionär der kurdischen Terrorgruppe PKK. Der Mann war auf Betreiben der Bundesanwaltschaft in Zypern festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert worden.“

Das Gericht gab an, dass dieser Artikel ausschließlich eine Wertung und die Unzufriedenheit des Autors zum Stand des PKK-Verfahrens ausdrücke und es sich deshalb nicht um einen Beweisantrag handeln könne. Für die Verteidigung war dies der Auslöser, um nach einer beantragten Pause im Namen von Kenan Ayaz die drei Richterinnen als befangen abzulehnen.

Ablehnung des Senats wegen Besorgnis der Befangenheit

Die Verteidigung führte zur Begründung des sogenannten Befangenheitsantrages aus, dass die Ablehnung des Antrages, den Artikel aus der FAZ mit der Äußerung Erdoǧans zu verlesen, die Weigerung des Gerichts deutlich mache, sich mit einer möglichen Einflussnahme auf die Auslieferung von Kenan Ayaz und das Verfahren in Hamburg seitens des türkischen Staates auseinanderzusetzen. Das von Kenan Ayaz begründete Misstrauen in die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit der Richterinnen sei daher plausibel. Nun wird eine andere Instanz am Oberlandesgericht Hamburg darüber entscheiden, ob die Richterinnen ersetzt werden müssen oder ob sie das Verfahren weiterführen dürfen. Bis zur Entscheidung werden die Prozesstermine allerdings wie geplant fortgesetzt.

In der ausführlichen Begründung des Antrages verwies die Verteidigung zum einen darauf, dass dies bereits die zweite Ablehnung des Antrages auf Verlesung des Artikels sei und dass sogar der Generalbundesanwalt zwei Mal der Verlesung zugestimmt habe. Zum anderen wurde Kritik daran geäußert, dass auf der einen Seite eine Vielzahl von Artikeln aus der türkischen Presse im Selbstleseverfahren verlesen werden und sogar der Sachverständige Seufert bestätigt habe, dass es in der Türkei keine Pressefreiheit gebe, und auf der anderen Seite ein Artikel aus der FAZ, bei der man davon ausgehen könne, dass sie journalistische Standards einhalte, nicht verlesen werden soll.

Weiter wurde ausgeführt, dass die Äußerung von Erdoǧan über das Verfahren gegen Kenan Ayaz wichtig sei, weil diese zeige, dass das Strafverfahren im objektiven Interesse der Türkei läge und weil diese Äußerung auf eine mögliche Gefährdung von Kenan Ayaz nach seiner Haftentlassung hindeuten würden. Die Verteidigung verwies darauf, dass der Sachverständige Seufert gesagt habe, dass der türkische Geheimdienst (MIT) auch im Ausland operiere, und erwähnte auch die Morde im Ausland an Theofilos Georgiadis auf Zypern im Jahr 1994 oder die Morde in Paris an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez im Jahr 2013, in die der MIT mutmaßlich involviert gewesen sei. Ebenfalls wurde in dem Antrag auf einen mutmaßlichen Einschüchterungsversuch der zyprischen Verteidigung von Kenan Ayaz hingewiesen. Hier wird Bezug genommen auf den brisanten Vorfall am 22. Dezember 2023. An diesem Tag wurde einem Kollegen des zypriotischen Verteidigers Efstathios Efstathiou, der eben diesem zuarbeitet, aus seinem Hotelzimmer sein Laptop gestohlen. Dies sei auf eine Art und Weise geschehen, aufgrund derer eine geheimdienstliche Tätigkeit der Türkei nicht auszuschließen sei.

Auch für die Prozessbeobachter:innen kumulierte die Haltung des Gerichts in der Weigerung, den Artikel aus der FAZ zu verlesen. Seit vielen Hauptverhandlungstagen lehnt das Gericht alle Anträge der Verteidigung ab und zeigt keinerlei Bereitschaft, außer durch die Vernehmung des Sachverständigen Seufert, sich auf die Verhältnisse in der Türkei einzulassen oder sich mit dem persönlichen Schicksal von Kenan Ayaz auseinanderzusetzen und erst recht nicht, die politische Einflussnahme durch Erdoǧan anzuerkennen. Damit wird auch eine Haltung Kenan Ayaz gegenüber deutlich: eine Ignoranz gegenüber seiner persönlichen Geschichte, seinem Kampf und der von ihm durchlittenen Folter und Inhaftierung und eine Ignoranz gegenüber den Gefahren, die Kenan Ayaz nach Beendigung des Prozesses drohen. Zugleich ist darin eine Ignoranz gegenüber der kurdischen Bewegung und ihrem Kampf, speziell in der Türkei, zu sehen.

Der Prozesstag endete mit weiteren Anträgen von der Verteidigung. Unter anderem verlangt sie, dass die V-Personen des Bundesverfassungsschutzes, die angeblich Informationen zu Kenan Ayaz geliefert haben sollen, als Zeugen vernommen werden sollen.

Das Verteidigungsteam hat zu diesem Ablehnungsantrag auch am 7. Februar 2024 eine Presseerklärung abgegeben.

Weitere Prozesstermine, jeweils 9:30 Uhr (evtl. Abweichungen sind der jeweiligen Terminankündigung zu entnehmen), Oberlandesgericht Hamburg (Sievekingplatz 3), Saal 237:

Mittwoch, 14.2.2024
Freitag, 16.2.2024, ab 13 Uhr
Montag, 26.2.2024
Montag, 11.3.2024
Dienstag, 12.3.2024
Mittwoch, 20.3.2024
Donnerstag, 21.3.2024, ab 13 Uhr

Auf der Seite kenanwatch.org werden Informationen in den Sprachen Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland angeboten.

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Kenan Ayas
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