Prozess gegen Kenan Ayaz: Ein bewegender Tag

Im Exil lebende ehemalige HDP-Abgeordnete sowie der zypriotische Parlamentsabgeordnete Kostis Efstathiou besuchten den Prozess gegen Kenan Ayaz. Vor dem OLG Hamburg zeigten sie ihre Solidarität und verurteilten das Verfahren gegen ihn.

Mit einem breiten Lächeln und einem Siegeszeichen begrüßte Kenan Ayaz (Behördenname: Ayas) seine Freund:innen, unter anderem im Exil lebende ehemalige HDP-Abgeordnete im Gerichtssaal des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg. Der 10. Januar war ein sehr wichtiger Tag für die Solidaritätsbewegung, denn neben der Gerichtsverhandlung fanden zwei Veranstaltungen statt, eine vor dem Gericht und eine im Stadtteilzentrum „Kölibri“.

Im Gerichtsaal hat sich erneut gezeigt, dass es keine Beweise für die Vorwürfe gegen Kenan Ayaz gibt, das türkische Regime hingegen jedes Mittel bei der Verfolgung von Kurd:innen und für den Machterhalt einsetzt.

Zu den Tätigkeiten von Ayaz kann ich nichts sagen, das kenne ich nur aus der Anklage“

Mit dem Zeugen L. wurde der zweite Zeuge einer Verfassungsschutzbehörde gehört. Der erste war der Zeuge W. vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), der durch seine Perücke, seinen falschen Namen und seine ausweichenden Antworten aufgefallen war. Im Gegensatz zu diesem machte der Zeuge L., Leiter der Abteilung für Beschaffung beim Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg, sehr viel konkretere Angaben, aber auch deren Erkenntnisgewinn war sehr gering. Er sagte, dass die vermeintliche Erkenntnis des Verfassungsschutzes, Kenan Ayaz sei Verantwortlicher der PKK für Norddeutschland von September 2018 bis Januar 2019 gewesen, nur auf einem einzigen V-Mann beruhe. Dieser V-Mann arbeite schon seit Jahren für den Verfassungsschutz und sei zuverlässig. Er habe bei drei Treffen mit seinen V-Mannführern behauptet, dass ein „Kenan“ jetzt „der Verantwortliche hier bei uns“ sei und hätte Kenan Ayaz auf Observationsbildern und einem Bild aus dem Internet als den „Kenan“ identifiziert. Weitere Angaben konnte der V-Mann nicht machen, also dazu, was dieser Kenan konkret gemacht haben soll. Es war noch nicht mal klar, für welches Gebiet „Kenan“ denn verantwortlich gewesen sein soll: Nur für Hamburg oder für den ganzen „Sektor Nord“. Letzteres behauptete der Zeuge L. Diese Behauptung steht aber im Widerspruch dazu, dass das BKA und das BfV sagen, es habe gar keine PKK-Sektoren in der Zeit 2018 und 2019 gegeben, sondern nur das Gebiet und die Region Hamburg. Außerdem sagte derselbe V-Mann im Januar 2019, dass jetzt eine weitere Person, ein B., Gebietsleiter von Hamburg werden soll, und im März, dass jetzt ein Y. die Gebietsleitung übernommen habe. Das BfV hat aber behauptet, ihr V-Mann habe gesagt, dass Kenan von September 2018 bis Juni 2019 der Verantwortliche für eben dieses Gebiet gewesen sei. Es wurde somit wieder einmal deutlich, dass es völlig unterschiedliche Informationen dazu gibt, wer in Hamburg welche Stellung in der Zeit 2018/2019 gehabt haben soll. Der Zeuge L. muss deshalb noch einmal kommen, weil er nicht auf alle Fragen des Gerichts antworten konnte. Es wurde schon jetzt deutlich, dass gerade auch nach der Aussage des Zeugen völlig unklar ist, warum die Bundesanwaltschaft sich entschieden hat, ausgerechnet Kenan als angeblichen Verantwortlichen für das Gebiet Hamburg anzuklagen; es sei denn, es ging weniger darum, was Kenan Ayaz gemacht hat, als dass man Erdoğan zeigen muss(te), dass man ihn mit Nachdruck verfolgt.

Weder ist die Türkei ein Rechtsstaat noch hat sie ein Interesse an Friedensverhandlungen

Nach der Mittagspause wurde der Sachverständige Dr. Günter Seufert zum inzwischen dritten Mal gehört. Nachdem dieser von Kenan Ayaz an den ersten zwei Tagen ausführlich befragt worden war, tat dies nun seine Anwältin Antonia von der Behrens. In der Befragung wurden noch einmal die Ursachen für die Entstehung der PKK herausgearbeitet wie die absichtliche wirtschaftliche Unterentwicklung der kurdischen Gebiete und die Unmöglichkeit, über legale Politik die kurdische Interessen zu vertreten. Die Angaben des Sachverständigen auf Fragen zu der Zeit nach dem Putschversuch 2016 in der Türkei lassen sich so zusammenfassen, dass Erdoğan und die AKP zur Erreichung ihrer politischen Ziele bereit waren und sind, über Leichen zu gehen. Dies zeigen die Anschläge des IS von 2015 – der Anschlag in Ankara auf die Friedensdemonstration und der Anschlag in Pirsûs (tr. Suruç) – sowie der Umstand, dass Erdoǧan den Putschversuch der Gülenisten absichtlich hat geschehen lassen und ihn nicht abgewendet hat, obwohl das möglich gewesen wäre. Weiter führte Seufert aus, dass die Türkei kein Rechtsstaat mehr ist und dass die Regierung kein Interesse an einer Fortsetzung des Friedensprozesses hat, sondern im Gegenteil ihre genozidalen Invasionen in Rojava und im Irak nutzt, um ihre Macht im Inneren zu stärken und dabei auch gegen den Willen der Nachbarländer deren Staatsgebiet besetzt. Außerdem beschrieb Seufert, wie der türkische Geheimdienst MIT gerade auch im Ausland gegen Oppositionelle agiert und unter Hakan Fidan von einem beobachtenden Dienst hin zu einem Dienst umgebaut wurde, der im Ausland operiert, und dass die Regierung darauf auch stolz ist. Es wurde also erneut deutlich, dass die Türkei, in deren Interesse das Verfahren gegen Kenan Ayaz geführt wird, ein diktatorischer Staat ist.

Grenzenlose Solidarität

Während der Mittagspause erklärten sich die angereisten ehemaligen Abgeordneten der HDP – Ahmet Yildirim, Leyla Birlik, Ziya Pir, Selma Irmak, Tuba Hezer, Lezgin Botan, Nihat Akdogan sowie die ehemalige Bürgermeisterin von Cizîr (Cizre), Leyla Imret – solidarisch mit Kenan Ayaz. Sie verurteilten den Prozess gegen ihn und die türkische Kampagne gegen die Kurd:innen.


Auch der zypriotische Parlamentsabgeordnete Kostis Efstathiou ergriff das Wort, würdigte den Kampf des kurdischen Aktivisten und bekräftigte die Forderung nach seiner Freilassung und Rückkehr nach Zypern. Er sagte, Kenan habe es geschafft, die Menschen in einer Solidaritätsbewegung für ihre Freiheit zu vereinen.

Wir stehen in der Schuld von Kenan Ayaz“

Am Abend desselben Tages fand eine gut besuchte Veranstaltung statt, die von der Linken-Abgeordneten Cansu Özdemir moderiert wurde. Die aus Zypern angereisten Referenten, der Abgeordnete Kostis Efstathiou und der Journalist Alekos Michaelides, berichteten über die zypriotische Perspektive auf den Fall Kenan Ayaz, die eng mit der Geschichte und Gegenwart Zyperns sowie der Türkei zusammenhängt. Kostis Efstathiou erklärte, dass er gekommen sei, um Kenan Ayaz zu unterstützen, denn die Zypriot:innen seien ihm viel schuldig. Das erste, was sie ihm schuldig seien, sei eine Entschuldigung. Eine Entschuldigung dafür, wie er vom zypriotischen Staat im Stich gelassen worden sei. Denn er sei aus den gleichen Gründen ausgeliefert worden, wegen derer er auf Zypern als politischer Flüchtling anerkannt worden sei. Außerdem habe er viele Jahre der Misshandlung und Folter in der Türkei erlitten und eine lange Gefängnisstrafen erhalten. All dies musste er erleiden, da er sich mit friedlichen Mitteln für die Rechte der Kurd:innen, für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit einsetzte. Und die vermeintliche Verbindung zur PKK wurde seitens der deutschen Behörden als wesentlicher Grund für das Gesuch auf Auslieferung herangezogen. Die zypriotischen Anwälte von Kenan Ayaz sind sehr enttäuscht darüber, dass die zyprische Justizministerin sowie der Generalstaatsanwalt keine Haltung bewiesen haben. Sie hätten sagen können, dass der Kampf von Ayaz mit legalen Mitteln stattfindet und kein Terrorakt darstellt. Laut Kostis Efstathiou haben sie sich „als sehr klein erwiesen und nicht den Mut gehabt, sich zu widersetzen. Sich dem zu widersetzen, was die offizielle Türkei momentan überall in Europa verlangt: Dass jeder PKKler bzw. jeder kurdische Mensch, der für die Rechte der Kurd:innen einsteht und mit der PKK in Verbindung steht, nach Meinung der Türkei ein Terrorist sei“. Alle Parteien auf Zypern seien solidarisch mit Kenan Ayas, außer die extrem rechte.

Auch der Journalist Alekos Michaelides äußerte sein Bedauern gegenüber der Entscheidung, den kurdischen Aktivisten auszuliefern. Während zunächst nur wenige Journalist:innen über den Fall berichteten, konnte durch die Initiative der Anwälte sowie durch Aktionen die Aufmerksamkeit verstärkt werden. So gab es mehrere große und breite Proteste unter anderem vor dem Gericht und dem Gefängnis auf Zypern. Die gerichtliche Entscheidung, die Berufung der Anwälte zurückzuweisen, sei beschämend gewesen. Es sei vor allem vor dem Hintergrund der zypriotisch-türkischen Geschichte und Gegenwart enttäuschend. Denn schließlich kämpften die Kurd:innen auch für die Menschen auf Zypern. In diesem Sinne hätten diejenigen das letzte Wort, die widerstehen, wurde Kenan Ayaz zitiert.

In einer Videobotschaft erklärte der zypriotische Europaabgeordnete Dimitris Papadakis, dass sich der deutsche Staat mit dem Auslieferungsgesuch und dem Prozess gegen Ayaz gegenüber dem türkischen Staat unterwürfig verhalte. Dabei werde der politische Kampf mit Terror gleichgesetzt.

Die im Exil lebende ehemalige HDP-Abgeordnete Selma Irmak machte deutlich, dass die deutsche Regierung mit dem Auslieferungsgesuch von Kenan Ayaz einen Kniefall vor der türkischen Regierung mache. Der Name laute Kenan, aber gemeint sei der kurdische Kampf um Freiheit. Mit der hier vorliegenden Verletzung der Menschenrechte werde ein Demokratiedefizit sichtbar. Es bestehe die Gefahr, dass dadurch faschistische Kräfte gestärkt werden könnten. Jene, die für Gerechtigkeit und Freiheit kämpfen, werden kriminalisiert. Sie werden verfolgt und inhaftiert, weil sie nicht aufgeben, so die kurdische Politikerin.

Am nächsten Prozesstag, dem 15. Januar 2024, wird erneut der Leiter der Abteilung für Beschaffung beim Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg an gehört. Weitere Prozesstermine, jeweils von 9:30 bis 16:00 Uhr, Oberlandesgericht Hamburg (Sievekingplatz 3), Saal 237:
Montag, 15.1.2024
Mittwoch, 17.1.2024
Donnerstag, 25.1.2024
Freitag, 26.1.2024
Montag, 29.1.2024
Montag, 5.2.2024
Dienstag, 6.2.2024
Donnerstag, 8.2.2024
Montag, 12.2.2024
Mittwoch, 14.2.2024
Freitag, 16.2.2024
Montag, 26.2.2024

Auf der Seite kenanwatch.org gibt es Informationen auf Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland. Die Initiative teilt mit:

Kenan Ayaz freut sich über Post. Auch wenn ihr kein Kurdisch oder Türkisch könnt, schreibt ihm, da die Post auch übersetzt werden kann. Wichtig ist, dass sein Behördenname Ayas angegeben ist:

Kenan Ayas
Untersuchungshaftanstalt Hamburg
Holstenglacis 3
20355 Hamburg

Spenden könnt ihr an:
Rote Hilfe e.V. OG Hamburg
Stichwort: Free Kenan
IBAN: DE06200100200084610203