Hamburger PKK-Prozess: Antrag auf Sichtung von Video mit Öcalan-Botschaft

In Hamburg ist der PKK-Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz fortgesetzt worden. Die Verteidigung stellte den Antrag, das Video vom Newrozfest 2013 in Amed mit der Botschaft Abdullah Öcalans zu zeigen.

Nachdem drei Hauptverhandlungstage im Prozess gegen Kenan Ayaz wegen Mitgliedschaft in der PKK im Zuge des Bahnstreiks ausgefallen waren, wurde am Mittwoch weiter vor dem Oberlandesgericht Hamburg verhandelt. Dabei wurden in erster Linie von der Verteidigung gestellte Anträge wie zum Selbstleseverfahren abgelehnt und neue eingebracht – darunter auch ein Video zum Newrozfest 2013 in Amed (tr. Diyarbakır), bei dem ein Brief von Abdullah Öcalan zu dem damals begonnenen Friedensprozess verlesen wurde.

Die Gerichtsvorsitzende Wende-Spohrs eröffnete den 15. Hauptverhandlungstag mit einer Ablehnung des Einspruchs der Verteidigung gegen das Selbstleseverfahren. Bereits in der Vergangenheit wurde mehrfach Widerspruch gegen diese Anordnung eingelegt. Auch Kenan Ayaz’ zypriotischer Verteidiger Efstathios C. Efstathiou hatte diese mit Blick auf das besonders hohe Informationsinteresse der Öffentlichkeit Zyperns mehrfach kritisiert. Das Selbstleseverfahren ist in PKK-Prozessen in Deutschland ein gängiges Vorgehen, um die Angeklagten fließbandgleich aburteilen zu können. Urkunden, die im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO eingeführt werden, werden nicht in der öffentlichen Hauptverhandlung verlesen, sondern nur vom Gericht und den Verfahrensbeteiligten. Die Öffentlichkeit hat somit nicht die Möglichkeit, Kenntnis von ihrem Inhalt zu nehmen.

Anträge zu vergangenen Urteilen und dem laufenden KCK-Verfahren

Die Anträge, die die Verteidigung unter anderem im weiteren Verlauf stellte, nehmen zum einen auf die Erklärung von Kenan Ayaz und zum anderen auf gemachte Ausführungen des Sachverständigen Dr. Seufert Bezug. Zunächst wurde die Verlesung von Urkunden sowie eines Zeitungsartikels beantragt.

Bei der ersten zu verlesenden Urkunde handelt es sich um das Urteil vom 6. Oktober 2009 aus Erzurum, in dem Kenan Ayaz vom Vorwurf der Mitgliedschaft in der PKK freigesprochen worden ist. Aufgrund einer unter Folter erpressten Aussage eines Dritten und einer ebenfalls unter Folter gesetzten Unterschrift von Ayaz, die er vor Gericht widerrief, wurde er 1995 zu 15 Jahren Haft verurteilt, von denen er elf Jahre und drei Monate absaß.

Gegen den Freispruch legte die Staatsanwaltschaft im Jahr 2013 Widerspruch ein. Es wurde beantragt, die Revisionsentscheidung zu verlesen, mit der der Widerspruch erst nach vier Jahren, im Jahr 2013, zurückgewiesen wurde.

Die dritte zu verlesende Urkunde stellt ein Hauptverhandlungsprotokoll aus einem abgetrennten Teil des KCK-Hauptverfahrens von Anfang 2022 dar. Aus diesem geht hervor, dass unter anderem Kenan Ayaz gesucht wird und in diesem Zusammenhang seitens des Gerichts ein Schreiben an die Generaldirektion für Internationales Recht und die Europäische Union gesandt wurde. Ob die Angeklagten und damit auch Ayaz bereits zur internationalen Fahndung ausgeschrieben worden sind, ist nicht bekannt. Allerdings müsse laut Verteidigung davon ausgegangen werden.

In der Begründung für den Antrag wurde auf die Anhörung des Sachverständigen Dr. Seufert hingewiesen. Dieser hatte ausgeführt, dass mit den KCK-Verfahren die kurdische Zivilgesellschaft in ihrer Breite kriminalisiert wurde – unabhängig davon, ob die Menschen tatsächlich Mitglieder der PKK oder zum Beispiel als Gewerkschafter:innen und Umweltschützer:innen aktiv waren. Denn Ziel der Verfahren sei es gewesen, die mit Blick auf den Friedensprozess und die Friedenszeit aufgebauten Strukturen der kurdischen Zivilgesellschaft zu zerstören.

Newroz 2013: „Endlich beginnt eine neue Ära ...“

Um die Angaben des Sachverständigen Dr. Seufert zu ergänzen und zu vertiefen sowie mit Blick auf die Erklärung von Kenan Ayaz zu seinen persönlichen Verhältnissen, beantragte die Verteidigung, dass in der Hauptverhandlung ein Video von der Newrozfeier 2013 in Amed gezeigt werde. Das Fest in jenem Jahr ist von besonderer Bedeutung, da hier offiziell der Beginn der Friedensverhandlungen mit der türkischen Regierung verkündet wurde. Letztere beendete jenen Prozess im Juli 2015. Die Verteidigung beschrieb, was in dem zu zeigenden Video zu sehen ist:

Ein großer Platz, auf dem ca. eine Million Menschen Newroz feiern. Von diesem geht eine friedliche und festliche Stimmung aus. Viele tragen traditionelle Kleidung, es wird getanzt und gesungen. Angesichts der wahrscheinlich eine Million Teilnehmenden könne bei der kurdischen Bewegung von einer Volksbewegung gesprochen werden.

Es sind auch einige Fahnen zu sehen, manche mit einem Bild von Abdullah Öcalan, andere sind Fahnen der PKK und wiederum andere tragen die kurdischen Farben. Das Bühnenprogramm ist geprägt von Musik- und Redebeiträgen. Schließlich wird die Verlesung eines Briefes von Abdullah Öcalan angekündigt, was mit großem Jubel begrüßt wird. Der Sachverständige Dr. Seufert hatte in einer Anhörung kurz über den verlesenen Brief von Öcalan berichtet, weshalb die Verteidigung das Video als ergänzende Beweisaufnahme geboten sieht.

Außerdem können mit dem Video die Angaben von Kenan Ayaz in seiner Erklärung zu den persönlichen Verhältnissen besser nachvollzogen werden. Denn die Ausgelassenheit und Freude der Feiernden ist jene, die der Angeklagte schilderte: Das Newrozfest 2013 als ein Höhepunkt in der Hoffnung auf einen erfolgreichen Friedensprozess.

Um dies greifbar zu machen, trug die Verteidigung die Botschaft Öcalans in Auszügen vor, in der die Notwendigkeit der Friedensverhandlungen bekräftigt wird:

„Heute beginnt eine neue Ära. Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokratischen Politik. Es beginnt eine Ära, die sich vorwiegend um Politik, Soziales und Wirtschaft dreht; es entwickelt sich ein Denken, das auf demokratischen Rechten, Freiheit und Gleichheit beruht. […]

Vor Millionen von Zeugen, die diesen Aufruf hören, sage ich: Endlich beginnt eine neue Ära, nicht die Waffen, sondern die demokratische Politik wird im Vordergrund stehen. Die Zeit ist gekommen, unsere bewaffneten Kräfte hinter die Grenze zurückzuziehen. […]

Dies ist kein Ende, sondern ein Neubeginn. Der Kampf ist nicht zu Ende, sondern ein neuer, anderer Kampf beginnt.

Ethnisch reine und mono-nationale Gebiete zu schaffen, ist eine unmenschliche Praxis der Moderne, die unseren Wurzeln und unserer Identität widerspricht.

Um ein Land zu schaffen, das der Geschichte Kurdistans und Anatoliens würdig ist und das allen Völkern einschließlich der Kurden Gleichheit, Freiheit und Demokratie bietet, kommt allen eine große Verantwortung zu. Ich rufe anlässlich dieses Newrozfestes genauso wie die Kurden auch die Armenier, Türkmenen, Aramäer, Araber und alle anderen Völker dazu auf, das Licht der Freiheit und Gleichheit, das aus den heute angezündeten Feuern leuchtet, auch als ihr eigenes Licht der Freiheit und Gleichheit zu betrachten.

Verehrtes Volk der Türkei, das türkische Volk, das in der Türkei, dem antiken Anatolien, lebt, soll wissen, dass das beinahe tausendjährige Zusammenleben mit den Türken unter der Flagge des Islam auf dem Gesetz von Geschwisterlichkeit und Solidarität beruht. In diesem Gesetz der Geschwisterlichkeit in seiner wahren Bedeutung ist kein Platz und darf kein Platz sein für Eroberung, Verleugnung, Zurückweisung, Zwangsassimilation und Vernichtung.

Die Politik des letzten Jahrhunderts basierte auf Repression, Vernichtung und Assimilation und stützte sich auf die kapitalistische Moderne. Sie stellte das Bestreben einer kleinen Machtelite dar, welche die Geschichte und das Gesetz der Geschwisterlichkeit in ihrer Gänze leugnete, aber nicht den Willen des Volkes repräsentierte. Heute ist offensichtlich, dass dieses Joch der Tyrannei der Geschichte und der Geschwisterlichkeit widerspricht. Um es gemeinsam abzuwerfen, rufe ich uns alle als die beiden grundlegenden strategischen Mächte des Mittleren Ostens dazu auf, die demokratische Moderne in einer Weise aufzubauen, die unseren Kulturen und Zivilisationen gerecht wird.

Die Zeit des Streits, der Konflikte und der gegenseitigen Verachtung ist vorbei, die Zeit ist reif für Einheit, Gemeinsamkeit, Umarmung und Vergebung. Türken und Kurden sind gemeinsam bei Çanakkale gefallen, sie haben den Befreiungskrieg zusammen geführt, 1920 das Parlament gemeinsam eröffnet. Die Tatsache unserer gemeinsamen Vergangenheit legt uns nahe, auch unsere gemeinsame Zukunft zusammen aufzubauen. Der Gründungsgeist der Nationalversammlung der Türkei erleuchtet auch die neue Ära, die heute beginnt. […]

Wir leugnen nicht komplett die gegenwärtigen zivilisatorischen Werte des Westens. Wir nehmen ihre Werte von Aufklärung, Freiheit, Gleichheit und Demokratie und führen sie in eine lebendige Synthese mit unseren eigenen Werten und universellen Formen des Lebens. Die Basis des neuen Kampfes sind Gedanken, Ideologie, demokratische Politik und der Beginn einer großen demokratischen Offensive.“ (www.youtube.com/watch?v=T1KRLDZ4_Fs)

Mit dem Inhalt des Briefes von Abdullah Öcalan, den auch Dr. Seufert erwähnt hatte, lässt sich der Verteidigung folgend „die tiefgreifende ideologische und politische Neuausrichtung der PKK seit 2005 belegen und damit auch das Konstrukt der Anklage einer vermeintlichen Kontinuität des ideologischen Fundaments und der Ziele der PKK, die von 1978 bis heute gezogen wird, widerlegen und zeigen, dass es eine dauerhafte Abkehr vom Ziel eines eigenen mit Waffengewalt durchzusetzenden kurdischen Staats gegeben hat.“

Anträge zur völkerrechtlichen Bewertung von türkischen Invasionen

Auch in einem weiteren Antrag bezog sich die Verteidigung auf Ausführungen des Sachverständigen Dr. Seufert, die türkischen Invasionen in Rojava und Nordirak betreffend und damit das Territorium souveräner Nachbarstaaten der Türkei. Auffallend ist, dass die Invasionen seitens der Türkei verharmlosend als „Operationen“ bezeichnet werden. Es wurden türkische Angriffe angeführt, die vor und während des angeblichen Tatzeitraums von Kenan Ayaz durchgeführt wurden. So zum Beispiel die „Operation Schutzschild Euphrat“, die vom 24. August 2016 bis März 2017 durchgeführt wurde. Im Fokus standen hier westlich des Euphrats gelegenen syrische Gebiete. Angeblich sollte hier der IS bekämpft werden. Doch tatsächlich zielte man auf die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und Errichtung eines „Sicherheitsstreifens“ ab. Mit der „Operation Olivenzweig“ im Januar 2018 wurden die Stadt Afrin und die umliegende Region eingenommen. Am 9. Oktober 2019 begann die „Operation Friedensquelle“. Während dieser wurden Gebiete östlich des Euphrats angegriffen, um im Zuge der Vertreibung der kurdischen Bevölkerung einen 30 Kilometer breiten Sicherheitsstreifen zu einzurichten. Schließlich wurde auf die seit 2019 bis heute vor allem im Frühjahr stattfindenden Angriffe auf die von der PKK kontrollierten Gebiete im Nordirak unter der Operationsbezeichnung „Kralle“ verwiesen.

Für die völkerrechtliche Bewertung beantragte die Verteidigung, Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu verlesen. Diese sollen der Ergänzung und Vertiefung der von Dr. Seufert gemachten Angaben dienen, die Wissenslücken aufweisen würden. Allerdings habe er bereits darauf verwiesen, dass die irakische Zentralregierung gegen die türkischen Invasionen protestiert und für diese keine Zustimmung erteilt hat. Dies sei insofern entscheidungsrelevant, da die Invasionen den vermeintlichen Tatzeitraum von Kenan Ayaz betreffen. Außerdem ergebe sich aus ihnen, dass die PKK sich im Nordirak gegen völkerrechtswidrige Angriffe des türkischen Militärs verteidigt habe.

Der Verhandlungstag endete mit der Bekanntgabe von geänderten und ergänzten Terminen. Der 5., 8. und 12. Februar entfallen aufgrund des Selbstleseverfahrens. Der nächste Prozesstermin ist der 6. Februar 2024. Unter solidarischem Applaus verließen die Beobachter:innen des Prozesses den Besucherraum.

Weitere Prozesstermine, jeweils 9:30 Uhr (evtl. Abweichungen sind der jeweiligen Terminankündigung zu entnehmen), Oberlandesgericht Hamburg (Sievekingplatz 3), Saal 237:

Dienstag, 6.2.2024
Mittwoch, 14.2.2024
Freitag, 16.2.2024, ab 13 Uhr
Montag, 26.2.2024, bis zum Mittag
Freitag, 8.3.2024
Montag, 11.3.2024, bis 13 Uhr
Dienstag, 12.3.2024
Mittwoch, 20.3.2024
Freitag, 22.3.2024

Auf der Seite kenanwatch.org werden Informationen in den Sprachen Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland angeboten.

Kenan Ayaz freut sich über Post. Auch wenn ihr ein Kurdisch oder Türkisch könnt, schreibt ihm, da die Post auch übersetzt werden kann. Unbedingt „Ayas“ schreiben, damit die Briefe auch an ihn zugestellt werden.

Kenan Ayas
Untersuchungshaftanstalt Hamburg
Holstenglacis 3
20355 Hamburg

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Rote Hilfe e.V. OG Hamburg
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