Im Kampf gegen die Kurd:innen ist Erdoğan jedes Mittel recht

Im PKK-Prozess gegen Kenan Ayaz in Hamburg ist zum vierten Mal der Sachverständige Günter Seufert angehört worden. Die Verteidigung sieht keine belastbaren Beweise und beantragt, einen weiteren Verfassungsschutzbeamten als Zeugen zu laden.

Am 17. Januar wurde im Prozess gegen Kenan Ayaz wegen Mitgliedschaft in der PKK vor dem OLG Hamburg zum vierten Mal der Sachverständige Dr. Günter Seufert gehört. Gegenstand waren hier die Kämpfe seit 2019 zwischen der PKK-Guerilla und Soldaten der türkischen Armee in den Medya-Verteidigungsgebieten im Süden Kurdistans (Nordirak). Da die türkische Armee in den vergangenen Wochen hohe Verluste zu beklagen hatte, lässt Erdoğan erneut die zivile Infrastruktur in Rojava (Nordsyrien) bombardieren. Der Sachverständige sagte, dass aufgrund dieser Verluste erstmals die Operationen des türkischen Militärs im Nordirak – insbesondere in den Wintermonaten, in denen die Guerilla dem Militär überlegen sei – kritisch in der türkischen Öffentlichkeit diskutiert würden.

Auf die Frage der Verteidigung, wie die Zentralregierung in Bagdad zu den Stützpunkten der türkischen Armee auf irakischem Staatsgebiet stehe, berichtete der Gutachter, dass sie sich dagegen ausspreche und oft dagegen protestiert hätte. Die irakische Regierung sei rhetorisch gegen die türkischen Armeestellungen und ihre Angriffe, werde aber geduldet. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Region auf das Wasser von Euphrat und Tigris angewiesen sind. Denn die Türkei drossele regelmäßig den Wasserzufluss, auch um die Regierung unter Druck zu setzen. Dies habe sie auch schon mit Rojava gemacht. Im Laufe des Prozesstages wies Seufert darauf hin, dass die Türkei aktuell 5.000 Soldaten im Irak und 10.000 Soldaten in Syrien stationiert habe.

Von welcher Größe die kurdischen Gebiete im Irak seien, wurde der Gutachter von der Verteidigung gefragt. Diese seien ungefähr so groß „wie das Gebiet der YPG in Nordostsyrien“, also von der Fläche her so groß wie das Saarland. Weiter führte er auf Nachfrage aus, dass es im Sommer letzten Jahres verstärkt Luftangriffe der türkischen Luftwaffe gegeben hätte. Während die Jagdbomber aus dem türkischen Staatsgebiet kommen würden, würde ein Teil der Drohnen von Stützpunkten auf irakischem Staatsgebiet starten. Laut den HPG würden zudem Chemiewaffen und Streubomben seitens der türkischen Armee eingesetzt und die Türkei weigere sich, diese Vorwürfe zu untersuchen. Nachdem die Präsidentin des Türkischen Ärzteverbandes, Şebnem Korur Fincancı, im Herbst 2022 solch eine Untersuchung eines möglichen türkischen Einsatzes von chemischen Waffen gegen die kurdische Bevölkerung im Irak gefordert hatte, sei sie inhaftiert worden. Dagegen protestierte die deutsche Ärzteschaft – ohne Erfolg. Vor knapp einem Jahr wurde Fincancı in diesem Zusammenhang wegen „terroristischer Propaganda“ zu einer Haftstrafe zu zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Im türkischen Parlament sei eine Untersuchung eines Chemiewaffeneinsatzes nie Thema gewesen. Es wird deutlich, dass der türkischen Regierung völkerrechtliche Belange und damit zusammenhängende Übereinkommen egal sind. Exemplarisch wird hier aufgezeigt, wie in der Türkei mit Menschen umgegangen wird, die das Handeln einzelner Institutionen infrage stellen – man sperrt sie einfach weg.

Auf Nachfrage der Verteidigung erklärte Seufert, dass im Nordirak und in Rojava auch viele Zivilist:innen vom türkischen Militär bzw. ihre Verbündeten angegriffen und getötet würden. Der Krieg gegen die PKK werde in der Türkei innenpolitisch ausgeschlachtet und ausgenutzt, äußerte der Sachverständige. Die PKK könnte aufgrund ihrer Struktur, ihrer Art des Kampfes und der Propaganda als Guerilla bezeichnet werden. Seinen Recherchen zufolge seien in den letzten Jahren mehr Guerillakämpfer und YPG`ler gestorben als türkische Soldaten.

Verteidigung beantragt Ladung eines VS-Beamten

Zum Ende des Prozesstages beantragte die Verteidigung, weitere Zeugen einzuladen, darunter auch einen Beamten des Verfassungsschutzes von Nordrhein-Westfalen, der ein Behördenzeugnis zu einer Person geschrieben hat, mit dem Kenan Ayaz angeblich zusammengearbeitet haben soll. Dies wurde damit begründet, dass die bisherigen Angaben zu Tätigkeiten von Kenan Ayaz unklar bzw. nicht eindeutig seien. Die Einvernahme der weiteren Zeugen werde ergeben, dass es keine belastbaren Beweise gegen den Angeklagten gebe.

Weitere Prozesstermine
Mittwoch, 31.1.2024
Montag, 5.2.2024
Dienstag, 6.2.2024
Donnerstag, 8.2.2024
Montag, 12.2.2024
Mittwoch, 14.2.2024
Freitag, 16.2.2024
Montag, 26.2.2024

Postadresse und Spendenkonto

Auf der Seite kenanwatch.org gibt es Informationen auf Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland. Die Initiative teilt mit: „Kenan Ayaz freut sich über Post. Auch wenn ihr kein Kurdisch oder Türkisch könnt, schreibt ihm, da die Post auch übersetzt werden kann. Wichtig ist, dass sein Behördenname Ayas angegeben ist.“

Kenan Ayas
Untersuchungshaftanstalt Hamburg
Holstenglacis 3
20355 Hamburg

Spendenkonto
Rote Hilfe e.V. OG Hamburg
Stichwort: Free Kenan
IBAN: DE06200100200084610203

Foto: Solidaritätsbekundung für Kenan Ayaz vor dem OLG Hamburg, 10. Januar 2023

Die Meldung wurde hinsichtlich veränderter Prozesstermine aktualisiert