Mehmet Çakas hat vor dem OLG Celle eine ausführliche Stellungnahme zu dem Gutachten des vom Staatsschutzsenat benannten Sachverständigen Dr. Günter Seufert abgegeben. Der kurdische Aktivist ist wegen PKK-Mitgliedschaft angeklagt, nach §129b StGB eine „terroristische Vereinigung im Ausland“. Beim vorherigen Prozesstag am 9. Januar stellten Mehmet Çakas und seine beiden Verteidiger Dr. Björn Elberling und Ulrich von Klinggräff direkte Fragen an Seufert.
Der Sachverständige war vom Gericht beauftragt worden, ein Gutachten zu der Entstehung und Entwicklung des „Kurdenkonflikts“ sowie zur Ideologie und den Zielen der PKK und KCK und deren Organisation und Finanzierung und zu den Anschlägen der HPG anzufertigen. Bei der letzten Verhandlung am Dienstag antworteten sowohl Mehmet Çakas als auch sein Verteidiger Ulrich Klinggräff mit ausführlichen Erklärungen, die Kritik an dem Gutachten übten und es vor allem ergänzten durch umfassende und tiefgreifende Analysen zur kurdischen Frage im gesellschaftlichen, politischen und historischen Kontext.
Çakas: Die historischen Tatsachen respektieren
„Obwohl der Sachverständige große Anstrengungen unternommen hat, unparteiisch, objektiv und wissenschaftlich vorzugehen, geht aus seinem Gutachten und seinen mündlichen Erläuterungen klar hervor, dass ihm dies nicht in ausreichendem Maße gelungen ist. Hätte der Gutachter die Möglichkeit gehabt, die kurdische Seite näher kennenzulernen, zu beobachten und zu verstehen, hätte er meines Erachtens nach wissenschaftlich fundiertere, fairere und aufschlussreichere Feststellungen und Schlussfolgerungen treffen können", konstatierte Çakas in seiner Stellungnahme. Eine umfassende Einordnung der politischen Lage sei eine notwendige Grundlage für ein gerechtes Urteil. Dabei gehe es ihm aber nicht in erster Linie um sein eigenes Strafverfahren, sondern um eine Richtigstellung, die über diesen Gerichtsprozess hinaus im kollektiven Gedankengut der Menschen ankommen sollte: „Die Vervollständigung der lückenhaften, unzureichenden und ungenauen Teile des Gutachtens aus kurdischer Sicht betrachte ich nicht nur wegen des gegen mich geführten Strafverfahrens als notwendig, sondern auch als ein Gebot der Treue zu den historischen Tatsachen und des Respekts vor denjenigen, die ihre Spuren in der Geschichte hinterlassen haben."
Fragwürdige Quellen
Die Verkürzung der historischen Ereignisse und die simplifizierten Einordnungen der politischen Zusammenhänge kritisierten Çakas und Klingräff bereits beim letzten Gerichtstermin als eurozentristisch. Çakas sprach von einer Art europäischer Überheblichkeit, mit der hier an die Sache herangegangen werden werde. Der Sachverständiger Seufert erklärt die historischen Hintergründe des Problems vor Gericht vor allem als „Kurdenkonflikt in der Türkei" und macht damit die Verantwortung Europas, und vor allem auch Deutschlands durch seine politische Zusammenarbeit und Waffenbrüderschaft mit der Türkei, unsichtbar. Auch stellt er in seinem Gutachten die PKK als externe und extreme Kraft außerhalb der kurdischen Bevölkerung dar und bezieht sich auf Quellen, die für eine wissenschaftliche Analyse fragwürdig sind. So zitierte der Gutachter in seinem Schreiben zum Beispiel auch Behauptungen der türkischen Propagandaorganisation SETA.
Demokratie und Nationalstaat
Die demokratischen Bestrebungen der kurdischen Bevölkerung und die Umsetzungen der freiheitssuchenden Ideologie von Abdullah Öcalan werden durch einen orientalistischen Blick des Sachverständigen Seufert diffamiert, indem als Vergleichspunkt die in Europa bestehende „bürgerliche Demokratie" genommen wird. „Zentrale Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, die das Verhältnis der politischen Institutionen der bürgerlichen Demokratie regeln, sucht man im KCK-Vertrag vergeblich", sagt Seufert in seinem Gutachten. Çakas beschrieb diese Perspektive als eine herablassende Haltung, durch die impliziert wird, dass sich im Nahen Osten kein modernes, internationalistisches und fortschrittliches Denken entwickeln könnte:
„Das Thema, bei dem der Sachverständige die größten Schwierigkeiten hat, es zu verstehen und im Gutachten zu erläutern, ist die Frage der Demokratie. Denn er sieht in dem Vertrag und dem System der KCK sowie in allen damit verbundenen Institutionen und Strukturen in erstaunlichem Maße alle Elemente der Demokratie, ist aber nicht in der Lage, dies mit dem von ihm akzeptierten Demokratieverständnis, das er als bürgerliche Demokratie bezeichnet, in Einklang zu bringen. Wenn der Nationalstaat und die bürgerlichen Kriterien als unverzichtbar für die Demokratie angesehen werden, wird es natürlich schwierig, eine solide und kohärente Bewertung vorzunehmen. Das hängt in der Tat davon ab, wie Demokratie wahrgenommen, verstanden und definiert wird. Im KCK-System ist Demokratie grundsätzlich vom Staat getrennt. Die westliche Demokratie hingegen betrachtet den Staat als wichtige Entwicklung und Zivilisationsstufe und identifiziert ihn als Nationalstaat. Daraus ergeben sich theoretische und konzeptionelle Unterschiede.“
Die Werte der kurdischen Freiheitsbewegung verstehen
Çakas und sein Verteidiger Klingräff stellten klar, dass es sich bei der Politik der Türkei gegenüber dem kurdischen Volk nicht nur um Assimilationspolitik, sondern um Genozid handelt. Diesen Begriff benutzt der Gutachter Seufert nicht. Sie erklärten, dass die kurdische Frage in den 1990er Jahren zur wichtigsten roten Linie der Politik der Türkei wurde und alle Beziehungen zu anderen Staaten danach ausgerichtet wurden. So tolerierten insbesondere die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Massaker an Kurdinnen und Kurden in dem Sinne, eine gute Beziehung zur Türkei zu pflegen. Damit machten sie sich mitschuldig an der faschistischen Politik der Türkei.
Die KCK als nichtstaatliches soziales, politisches und demokratisches System auf der Basis eines demokratischen, geschlechteremanzipatorischen und ökologischen Gesellschaftsparadigmas und die PKK als praktischer, ideologischer und moralischer Motor seien grundlegend für die Umsetzung der Demokratie in Kurdistan und darüber hinaus. Wenn man die Werte der kurdischen Freiheitsbewegung verstehe, verstehe man auch ihre unglaubliche demokratisierende Kraft und ihr Streben nach Freiheit und Frieden für die gesamte Menschheit. Das Umsetzen als autoritär und undemokratisch abzustempeln, könne nur Folge einer Mentalität sein, die auf Orientalismus, Eurozentrismus und Kapitalismus beruht.
Grüße an Abdullah Öcalan
Çakas regte in diesem Zusammenhang an, unvoreingenommen das „Manifest für eine demokratische Gesellschaft" von Abdullah Öcalan zu lesen, des Vordenkers der kurdischen Freiheitsbewegung und Architekten des KCK-Systems, um sich unbeeinflusst von türkischer Propaganda oder westlichen kapitalistischen Idealen ein Bild von den demokratischen Ideen der Bewegung machen zu können. „Bei dieser Gelegenheit grüße ich Herrn Abdullah Öcalan, der uns Kurden unter den autokratischen und dogmatischen Bedingungen des Nahen Ostens mit seinem modernen demokratischen und säkularen Denken Licht gebracht hat", so Mehmet Çakas, der in seiner Analyse auf eindrucksvolle Weise auch von seinen persönlichen Erfahrungen in Kurdistan berichtete.