Legalprognose: „Was assoziieren Sie mit dem Wort Sonne?“

Voraussetzung für die Haftentlassung ist eine günstige Legalprognose. Durch eine neue Verordnung ist es politischen Gefangenen in der Türkei unmöglich, mit einer positiven Beurteilung vorzeitig entlassen zu werden.

Das schwere Los von Fahrettin Şahin spiegelt das Schicksal tausender politischer Gefangener in der Türkei wieder. Seit drei Jahrzehnten sitzt der 52-Jährige im Gefängnis, nachdem er 1991 zu einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Am 16. April hätte er im Rahmen der „Reform“ im Strafvollzugsrecht bedingt aus dem F-Typ-Gefängnis Bolu entlassen werden sollen. Doch zu Jahresbeginn erfolgte die Einführung einer neuen Verordnung über das Verhalten von Verurteilten im Strafvollzug. Nur, wenn der Gefangene positiv beurteilt wird, kann eine vorzeitige Entlassung geschehen. Denn ob die Betreffenden vorzeitig das Gefängnis verlassen dürfen oder nicht, ist von verschiedenen Kriterien abhängig: In welchem sozialen Umfeld bewegen sie sich? Wie war ihr Verhalten während der Haftzeit? Wie sind ihre Zukunftsprognosen? Doch wie Menschenrechtler:innen bereits im Vorfeld befürchtet hatten, handelt es sich bei dieser Ergänzung faktisch um eine juristische Grundlage, die aus politischen Gründen inhaftierten Gefangenen hinter Gitter zu lassen. Seit die Verordnung in Kraft ist, erhielt kein einziger der Gewissensgefangenen eine günstige Legalprognose. Demgegenüber kamen Mörder, Mafiabosse und Vergewaltiger frei.

Über die Einsitzenden urteilen keine Behörden, sondern Nichtjurist:innen der Gefängnisleitungen, die zu einem Teil der Judikative gemacht wurden. In Deutschland etwa prüfen externe Vollzugsbehörden, ob eingewiesene Personen nach Verbüßung der Mindesthaftdauer bedingt entlassen werden können. Sie holen hierzu einen Bericht der Leitung der Institution des Freiheitsentzugs ein und hören die eingewiesene Person an. In der Türkei entfallen diese Schritte durch die am 1. Januar in Kraft getretene Verordnung. „In der Realität bedeutet das, dass die politischen Gefangenen der in türkischen Haftanstalten grassierenden Willkür noch ungeschützter ausgeliefert sind als bisher“, sagt Destina Yıldız, Ko-Sprecherin der Gefängniskommission der Vereinigung für freiheitliche Jurist:innen (tr. „Özgürlük için Hukukçular Derneği“ - ÖHD). Denn Haftentlassungen der politischen Gefangenen werden durch die Anstaltsleitungen mit den gesetzlichen Regelungen für den Strafvollzug verneint.

Fahrettin Şahin: Seit dreißig Jahren im Gefängnis

Da wäre etwa das Recht auf den Kauf eigener Bücher oder die Unterbringung von politischen Gefangenen in sogenannten parteiischen Zellen. Das Gesetz sieht vor, dass Gewissensgefangene in einem Zellentrakt mit anderen politischen Gefangenen einsitzen. „Im Fall von Fahrettin Şahin wird die Entlassung eben damit begründet, dass er seine Haftzeit in einer politischen Zelle verbüßt hat, als hätte er nach eigenem Gutdünken gehandelt“, kritisiert Yıldız. Die Beurteilung ihres Mandanten strotze nur so von Widersprüchen. „Da wird ihm zwar einerseits bescheinigt, dass ihm in den letzten vier Jahren keine Disziplinarstrafe auferlegt wurde, es keine Hinweise darauf gibt, dass er wieder straffällig werden könnte, weil er kein bedrohliches oder provokatives Verhalten gezeigt habe, er großen Wert auf persönliche Hygiene lege und sich an die empfohlenen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit halte. Aber auf der anderen Seite wird ihm vorgehalten, kaum Bücher aus der Anstaltsbibliothek entliehen und sich nicht an sogenannten Resozialisierungsprogrammen (gemeint ist die Inanspruchnahme des Reuegesetzes, ANF) beteiligt zu haben. Darüber hinaus hätte sich Fahrettin Şahin unkooperativ bei Zellendurchsuchungen gezeigt und damit die Aufgaben und Pflichten des Gefängnispersonals erschwert. Seine Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung seien nicht erfüllt, auch weil er sich an Aktivitäten mit frisch verurteilten politischen Gefangenen beteiligt habe. Diese widersprüchliche Beurteilung zeigt hinreichend, dass die Verordnung über das Verhalten von Verurteilten im Strafvollzug ausschließlich zur Verwahrung der politischen Gefangenen hinter Gefängnismauern eingeführt worden ist“, sagt Destina Yıldız.

Häufig begründeten die Gefängnisse die „ungünstige Legalprognose“ mit der Teilnahme der Gefangenen an Hungerstreiks gegen die völlige Entrechtung in türkischen Gefängnissen, führt die Juristin weiter aus. Diese tauchten als Disziplinarstrafen in den Beurteilungen auf. „Dass in den Haftanstalten in Bezug auf die politischen Gefangenen völlige Willkür herrscht, macht sich an einem Beispiel aus dem Gefängnis Tekirdağ Nummer 2 deutlich. Einem seit 29 Jahren inhaftierten Insassen, der seit Beginn seiner Haftzeit von den politischen Zellen isoliert worden ist und die letzten Jahre ohnehin in einer Einzelzelle verbracht hat, wird die bedingte Entlassung verwehrt, weil er ‚die Moralvorstellungen der Organisation‘ (PKK, Anm. d. Red.) teilen würde.“ Die Bewertungskriterien für die Entscheidungsfindung seien „zum Haare raufen“, sagt Yıldız. „Bei den Anhörungen durch das Gefängnispersonal werden Fragen wie ‚Sehen Sie Abdullah Öcalan als Vorsitzenden der Organisation an?‘, ‚An was denken Sie, wenn das Wort Sonne fällt?‘, ‚Wer ist Ihr Anführer?‘, ‚Warum verbleiben Sie in ihrer Zelle?‘ oder ‚Bereuen Sie Ihre Straftaten?‘ gestellt. Es existiert kein Mechanismus zur Kontrolle oder Überwachung dieser persönlichen Anhörungen und welche Fragen an die Gefangenen gerichtet werden. Es ist offensichtlich, dass dieses Instrument, das der Interpretation, Willkür und der Initiative des Einzelnen überlassen bleibt, nichts mit dem Konzept der Gerechtigkeit zu tun hat.“ Destina Yıldız fordert, dass das erlahmte öffentliche Interesse für das Schicksal der politischen Gefangenen in der Türkei wieder erwacht.