„Demokratie ist ein zivilgesellschaftlicher Auftrag“
Der Ehrenvorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Ertuğrul Kürkçü, hat sich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur ANF zur aktuellen politischen Entwicklung in der Türkei geäußert.
Der Ehrenvorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Ertuğrul Kürkçü, hat sich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur ANF zur aktuellen politischen Entwicklung in der Türkei geäußert.
Ertuğrul Kürkçü ist HDP-Ehrenvorsitzender und hat mit ANF über die Auswirkungen des Regierungshandeln auf die Demokratie in der Türkei gesprochen. Er sieht in den jüngsten Operationen gegen die größte Oppositionspartei CHP einen schweren Angriff auf die demokratische Ordnung und fordert gesellschaftliches Engagement für den Aufbau einer demokratischen Grundlage.
Ambivalente Signale und wachsendes Misstrauen
Kürkçü kritisiert eine widersprüchliche Politik der Regierung in Bezug auf den kurdisch-türkischen Dialog. Während auf der einen Seite Gespräche mit dem inhaftierten kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan angedeutet würden, gingen die Behörden gleichzeitig massiv gegen die CHP vor. Dies schüre Zweifel am tatsächlichen Willen zu einem ernsthaften Dialog.
Er fand deutliche Worte: „Das ist ein tödliches Risiko. Das Regime spielt mit der Meinung der Kurd:innen. Einerseits errichtet es in der gesamten Türkei ein neues autoritär-totalitäres Regime, und andererseits verlangt es von ihnen, an ein Leben in einer friedlichen und freien Gesellschaft unter seiner Herrschaft zu glauben.“
Diese widersprüchlichen Maßnahmen sorgten, so Kürkçü, für tiefes Misstrauen innerhalb der kurdischen Gesellschaft: „Die Sorge, dass ‚Opfer für den Frieden dem Unterdrückungsregime zugute kommen‘, hält große Teile der Bevölkerung von der Politik fern.“
CHP im Visier juristischer Operationen
Besonders kritisch bewertet Kürkçü die politische Operation gegen den sogenannten „Stadtkonsens“, bei der Vertreter:innen der CHP wegen angeblicher Verbindungen zu einem Konzept der PKK ins Visier genommen werden. In der Anklageschrift werde behauptet, die Theorie des Stadtkonsenses sei von der PKK-Führung entwickelt worden. Bei dem Stadtkonsens handele es sich um einen landesweiten Ansatz, der in den lokalen Verwaltungen einiger östlicher Städte zur Umsetzung gekommen sei. Hierbei sei es das Ziel, sich mittels der Mechanismen im demokratischen Autonomiesystem, in die Kommunalverwaltungen zu integrieren.
Kürkçü ordnet diese Vorwürfe ein:
„Kurz gesagt: Der Präsident und sein jüngerer Kollege fordern die PKK-Führung auf, die Waffen niederzulegen und die Organisation aufzulösen, was bedeutet, dass das, was sie ‚Terror‘ nennen, unter der Aufsicht des Regimes rechtlich und praktisch ausgerottet wird. Im selben Moment kriminalisiert derselbe Staat durch seine ‚mobile Guillotine’ die kurdischen Lokalregierungen in Nordkurdistan und die kurdische Beteiligung an den Lokalregierungen in westlichen Städten.“ [Der dem Prozess gegen Imamoğlu vorsitzende Generalstaatsanwalt Akın Gürlek ist aus diversen politisch motivierten Verfahren bekannt und wird von der Opposition wegen seines repressiven Vorgehens gegen Andersdenkende als „mobile Guillotine“ bezeichnet, Anm. d. Red.]
Strategie mit Blick auf 2028
Nach Einschätzung Kürkçüs steht hinter den juristischen Angriffen auch eine strategische Überlegung mit Blick auf kommende Präsidentschaftswahlen: „Ein solcher Angriff wurde durchgeführt, um die Atmosphäre eines möglichen demokratischen Bündnisses zwischen der DEM-Partei und der CHP zu beseitigen und die multiethnische Unterstützung der Bevölkerung in den Metropolen zu zerstören. Hinter den Kulissen dieses Angriffs wollen sie zeigen, dass die Opposition, die Kurd:innen und die CHP-Basis brennen werden, wenn sie zusammenkommen.“
Trotz dieser Repressionen hält Kürkçü an der Vision eines demokratischen Bündnisses fest: „Das auf dem HDP-Kongress 2020 formulierte Ziel des ‚Demokratischen Bündnisses‘ ist im Wesentlichen die Formulierung der führenden Rolle der Kurd:innen innerhalb der gesellschaftlichen Opposition.“
Demokratie von unten – ein zivilgesellschaftlicher Auftrag
Abschließend macht der HDP-Ehrenvorsitzende deutlich, dass er eine demokratische Wende nicht von oben erwartet, sondern von der Gesellschaft selbst: „Es scheint, dass Staat und Regierung den Test ‚auf rechtlichem und demokratischem Boden‘ nicht erneut bestehen können und auch nicht bestehen werden. Das Thema kehrt zum Anfang zurück. Jede Gemeinschaft, jede Initiative, jede Moschee wird an ihrer Stelle einen ‚rechtlichen und demokratischen Boden‘ schaffen.“