In Istanbul hat am Freitag ein Prozess gegen kurdische Geistliche begonnen, der eher einem orwellschen Gebilde als einem Gerichtsverfahren gleicht. Ähnlich wie bei den 2009 eingeleiteten KCK-Verfahren gegen die kurdische Zivilgesellschaft geht es offensichtlich um die Schaffung einer Konstruktion, mittels derer politische Feinde aus dem Verkehr gezogen werden sollen. Diesmal im Visier: Ekrem Imamoğlu, Oberhaupt der Stadtverwaltung Istanbuls. Der CHP-Politiker hatte der AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan 2019 das wichtigste Bürgermeisteramt der Türkei abgejagt. Das Milliardenbudget der 16-Millionen-Metropole, aus dem die AKP ihr klientelistisches Netzwerk unterhalten hatte, beeinflusst die Machtverhältnisse im ganzen Land. Entsprechend reagierte die Palastführung auf den Verlust und nutzte seitdem jede Gelegenheit, Imamoğlu auszubremsen und sein Rathaus mit Problemen zu überhäufen.
Terrorverdacht gegen die Stadtverwaltung
Im November wurde der Istanbuler Verwaltung zunächst per Präsidialdekret die Kontrolle über die Prinzeninseln im Marmarameer entzogen – zugunsten des Umwelt- und Entwicklungsministeriums. Anfang Dezember ließ der türkische Präsident dann verlautbaren, Istanbul müsse bei der nächsten Wahl wieder „seinen Herrscher” finden, und das sei die AKP. Prompt kündigte Innenminister Süleyman Soylu eine Untersuchung wegen des Terrorverdachts gegen die Stadtverwaltung von Istanbul an. Gegen mehr als 550 der rund 33.000 unter Imamoğlu eingestellten neuen Beschäftigten würden Beschwerden wegen angeblicher Verbindungen zu „Terrororganisationen“ vorliegen, allein 455 beträfen die PKK. Eine auf Anordnung von Soylu im Innenministerium eingerichtete Stelle prüft seitdem die „Anzeigen gegen das verdächtige Personal“. Merkwürdig ist nur, dass alle neuen Angestellten bereits eine Sicherheitsüberprüfung durch das Innenministerium durchlaufen haben.
Manöver läuft auf Zwangsverwalter in Istanbul hinaus
Die Opposition ist sich einig, dass es sich beim Terrorismusvorwurf gegen städtisches Personal um ein Manöver handelt, das auf ein Amtsenthebungsverfahren gegen Imamoğlu und damit die Einsetzung eines staatlichen Zwangsverwalters im Istanbuler Rathaus hinausläuft. Zum Opferlamm für dieses Ziel bestimmt wurde der 2008 in Istanbul gegründete „Verein für gegenseitige Hilfe und Solidarität der Geistlichen“ (DIAYDER), dem hauptsächlich Personen mit kurdischem Hintergrund angehören. Angeklagt sind insgesamt 23 Mitglieder des Vereins, acht von ihnen sitzen seit Sommer im berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Silivri in Untersuchungshaft – darunter auch der DIAYDER-Vorsitzende Ekrem Baran. Die Geistlichen im Alter zwischen 65 und 90 Jahren werden der PKK-Mitgliedschaft beziehungsweise Unterstützung beschuldigt. Die Staatsanwaltschaft fordert Haftstrafen zwischen mindestens dreieinhalb und maximal fünfzehn Jahren.
DIAYDER als „paralleles Präsidium für Religionsangelegenheiten“ gegründet
Dass die Vorwürfe gegen DIAYDER mehr als kafkaesk sind, liest sich in nahezu jeder Zeile der 335-seitigen Anklageschrift. Diese beginnt mit der Behauptung, der Verein sei Teil der „KCK-Struktur“ und auf „Anordnung“ des inhaftierten PKK-Begründers Abdullah Öcalan mit dem erklärten Ziel gegründet worden, „innerhalb des KCK-Komitees für Minderheiten und Glaubensgruppen ein paralleles Präsidium für Religionsangelegenheiten“ – ähnlich der staatlichen Religionsbehörde Diyanet – ins Leben zu rufen. Als vermeintliche Beweise gegen die Angeklagten werden seitenweise hanebüchene Erklärungsversuche geliefert, die einerseits an der juristischen Kompetenz des Staatsanwalts zweifeln lassen, andererseits einen Hinweis auf das Feindstrafrecht geben, nach dessen Prinzip bei dem Prozess verhandelt wird.
Die Anschuldigungen stützen sich unter anderem auf Presseerklärungen und Interviews zu religiösen Fragen, auf Kurdisch gehaltene Predigten und Gebete, Kampagnen zur Verteilung von kurdischen Übersetzungen des Korans, unterstützende Statements für die Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und Abdullah Öcalan, die Totenwaschung und Teilnahme an Beerdigungen, Solidaritätsfahrten nach Pirsûs (tr. Suruç) während der Belagerung der auf der anderen Seite der Grenze liegenden Stadt Kobanê durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) und die Bekundung von Protest gegen die IS-Unterstützung der Regierung.
Im Zusammenhang mit der Istanbuler Stadtverwaltung wird den Angeklagten vorgeworfen, etliche Mitglieder des legalen, jedoch von der Staatsanwaltschaft als „KCK-Struktur“ kriminalisierten Vereins in das Rathaus eingeschleust zu haben, teilweise als Totenwäscher und als Imame, und Teile des Gehalts unter dem „Deckmantel des Mitgliedsbeitrags“ an die PKK weitergeleitet zu haben. Darüber hinaus habe DIAYDER öffentliche Gelder, die von der Stadtverwaltung für religiöse Projekte bereitgestellt wurden, zu „terroristischen Zwecken“ unterschlagen. Lebensmittelkarten für Bedürftige, die vom Rathaus an den Verein ausgegeben wurden, seien nicht wie vorgesehen an Mittellose verteilt worden, sondern an Angehörige von Personen, die bei der sogenannten Aufstandsbekämpfung getötet wurden – gemeint sind Gefallene des kurdischen Befreiungskampfes.
„Anonyme Zeugen“ aus KCK-Verfahren von 2009
Rechtsanwältin Ayşe Acinikli fasste beim Prozessauftakt zusammen, dass sich der Anklageschrift keine strafbaren Handlungen der Angeklagten entnehmen ließen und die Anschuldigungen konstruiert seien. Hinzu käme, dass sie sich teilweise auf die Aussaggen „anonymer Zeugen“ stützten, auf die schon bei den KCK-Verfahren 2009 zurückgegriffen worden sei, sowie auf Protokolle illegal abgehörter Telefonate – teilweise aus 2013. Acinikli wies zudem darauf hin, dass die Ermittlungen gegen DIAYDER erstmals direkt nach der Vereinsgründung vor vierzehn Jahren eingeleitet wurden. Die Akte sei jedoch erst jetzt im Zusammenhang mit den Kriminalisierungsversuchen gegen die Istanbuler Stadtverwaltung herausgekramt worden. Ähnlich äußerten sich auch die bislang zu Wort gekommenen Beschuldigten nach der stundenlangen Verlesung der Anklageschrift.
Der Angeklagte Halil Bulut, der nicht im Saal anwesend war, sondern über das Videokonferenzsystem SEGBIS in die Verhandlung eingebunden wurde, brach kurz vor seiner Aussage in der Kabine zusammen. Der 72-jährige Enver Karabey, der zu den inhaftierten Angeklagten gehört, konnte sich aufgrund seiner COPD-Erkrankung (chronisch obstruktive Lungenerkrankung) kaum auf den Beinen halten. Über einen Antrag für die Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen will das Gericht zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden. Die Zermürbungsaktion durchzustehen, kostete die Geistlichen viel Kraft. Alle wiesen die Anschuldigungen gegen sie energisch zurück und sprachen geschlossen von einer „beispiellosen Prozessfarce“. Das Verfahren wird am kommenden Montag fortgesetzt.