2011 verurteilte ein türkisches Sondergericht für schwere politische Straftaten in der Provinz Adana 16 Angeklagte wegen „Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)“ zu Freiheitsstrafen zwischen fünf und zehn Jahren. Unter ihnen waren auch der damalige Provinzvorsitzende der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Mehmet Zeki Karataş, die beiden BDP-Politiker Mehmet Tayyip Yıldız und M. Cihan Kıran sowie die Imame Mehmet Bozhan und Isa Turan. Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung war die Teilnahme der Angeklagten an den zivilen Freitagsgebeten, die im Rahmen der „Kampagne des zivilen Ungehorsams“ stattfanden. 2014 bestätigte das türkische Verfassungsgericht das Urteil, im selben Jahr schaffte die Türkei ihre international umstrittenen Sondergerichte abgeschafft.
Die Rechtsanwältin Yasemin Dora Şeker hat jetzt eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht. Sie wirft der Türkei gleich mehrere Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vor, darunter gegen Artikel 6, der das Recht auf ein faires Verfahren garantiert und gegen das Diskriminierungsverbot (Artikel 14). Außerdem habe die türkische Justiz gegen das Recht auf Gedankens‑, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 9), gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung (Artikel 10) und die Versammlungsfreiheit (Artikel 11) verstoßen.
Şeker: KCK-Verfahren sind ein „Piratenakt“
Şeker bezeichnet die sogenannten KCK-Verfahren als „Piratenakt“: mit juristischen Mitteln sollte die kurdische politische Opposition ausgeschaltet werden. Dabei wurde nicht nur gegen europäische Standards, sondern auch großzügig gegen das eigene Gesetz verstoßen, kritisiert die Anwältin. „Im Übrigen handelte es sich bei den Antiterrorpolizisten, Staatsanwälten und Richtern der KCK-Verfahren größtenteils um Personen, die wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung des Amtes enthoben und verhaftet wurden. Zudem wurden die Sondergerichte, die nach der eigenen Gesetzgebung rechtswidrig waren, 2014 abgeschafft. Somit haben die dort gesprochenen Urteile längst ihre Gültigkeit verloren.“
Ziviler Ungehorsam in Nordkurdistan
Die „Kampagne des zivilen Ungehorsams“ begann am 21. März 2011, dem kurdischen Widerstands- und Neujahrsfest Newroz. Die Initiative erfasste breite Teile der kurdischen Gesellschaft; neben Friedenszelten, die immer wieder zum Ziel schwerer Polizeiübergriffe wurden, sprach die Kampagne auch Menschen in ihrer Religionsausübung an. Der sunnitische Islam ist in der Türkei Staatsreligion und wird von der Regierungspartei AKP über das Religionsministerium, dem alle Imame angehören müssen, geprägt. Nicht-sunnitische Personen werden vom türkischen Staatsislam systematisch diskriminiert und die türkische Staatspolitik umgesetzt. Gefallenen Kämpferinnen und Kämpfern der Guerilla beispielsweise wird häufig eine Beerdigung mit der Begründung verweigert, es handele sich um „Terroristen“.
„Theologie der Befreiung“
So gehörte es ebenfalls zur politischen Praxis des zivilen Ungehorsams, den Staatsimamen den Boden zu entziehen und eine Art linke „Theologie der Befreiung“ zu entwickeln, die sich auch gegen sexistische und rassistische Unterdrückung richten soll. Im Rahmen dieser Kampagne wurden daher zivile Freitagsgebete außerhalb der staatlich kontrollierten Moscheen durchgeführt, an denen sich häufig auch die Frauenbewegung beteiligte. Imame predigten auf Kurdisch und griffen regelmäßig politische Themen wie die Verhaftungen kurdischer Politiker*innen, das Massaker von Roboskî oder die Ermordung der drei kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez auf.
Da der religiöse Konservatismus eines der wichtigsten Standbeine der AKP ist, sah die Regierungspartei des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan in diesen Aktionen einen direkten Angriff auf ihre Machtbasis. In den türkischen Medien wurden die beteiligten Imame als „PKK-Imame“ bezeichnet, die Qualifizierung für die „Durchführung religiöser Rituale“ wurde ihnen abgesprochen. So fanden die zivilen Freitagsgebete unter massiver Präsenz der Polizei, des Militärs und Geheimdienstes statt. Mit bewaffneten zivilen und uniformierten Kräften, Räumpanzern, Wasserwerfern, Schützenpanzern und anderem schweren Rüstungsgut standen Sicherheitskräfte stets in Sichtweite, provozierten Teilnehmende und filmten Betende. Im Juli 2013 wurde die Kampagne beendet.