Kobanê-Verfahren: Angeklagte bleiben im Gefängnis

Die 20 inhaftierten Angeklagten in dem als „Kobanê-Verfahren“ bekannten Schauprozess gegen führende Politikerinnen und Politiker der HDP bleiben in U-Haft. Das ist das Ergebnis einer Haftprüfungsverhandlung. Der Prozess selbst wird im Juli fortgesetzt.

Die inhaftierten Angeklagten in dem als „Kobanê-Verfahren“ bekannten Schauprozess gegen führende Politikerinnen und Politiker der HDP bleiben in Untersuchungshaft. Das teilte das Verteidigungsteam der Beschuldigten nach Abschluss der ersten Sitzungswoche für die 25. Hauptverhandlung am Freitagabend in Ankara mit. Eine Begründung für die Fortsetzung der Untersuchungshaft wurde nicht genannt. Frühere Anträge auf Aufhebung des Freiheitsentzugs waren vom Gericht mit Verweis auf ein zu erwartendes hohes Strafmaß, durch das sich Fluchtgefahr ergeben würde, verworfen worden. Die nächste Haftprüfung findet am 7. Juni statt.

Im seit April 2021 andauernden Kobanê-Verfahren sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Unter ihnen befinden sich die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die derzeitige Parteichefin Pervin Buldan und Mitglieder des zentralen Parteivorstands von 2014. Zwanzig der Angeklagten befinden sich in Untersuchungshaft.

Bis zu 15.000 utopische Jahre Haft für Demirtaş gefordert

Der Prozess steht in engem Zusammenhang mit dem Verbotsverfahren gegen die HDP und den bevorstehenden Wahlen in der Türkei. Am 15. April hatte die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer gehalten. Sie fordert für 36 Angeklagte eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe – Haft bis zum physischen Tod – unter anderem wegen „Störung der Einheit und Integrität des Staates“ gemäß Artikel 302/1 des türkischen Strafgesetzbuches. Allein Demirtaş soll nach dem Willen der Generalstaatsanwaltschaft Ankara bis zu 15.000 utopische Jahre in Haft. Die Verhandlung wird am 3. Juli fortgesetzt.

Appell zu Solidarität von Justiz in Gewaltaufruf umgewidmet

Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”

Dutzende Tote, hunderte Verletzte

Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt und 323 weitere verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.

EGMR wertet Aufruf als politische Rede

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme aber keine Beweise vor. Im Dezember 2020 stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP. Die Türkei ignoriert das Urteil.