Civaka Azad, das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. in Berlin, hat einen neuen Newsletter mit dem Schwerpunktthema „Wahlen in der Türkei“ und ein Dossier mit Hintergrundinformationen über den türkischen Krieg gegen die kurdische Selbstbestimmung herausgegeben. Am Wahltag werden die Mitarbeiter:innen von Civaka Azad im permanenten Austausch mit dem Wahlstab der HDP sowie lokalen Journalist:innen und lokalen Aktivist:innen stehen und auf ihrem Twitter-Account über die Ereignisse am Sonntag in der Türkei und Nordkurdistan berichten.
In dem aktuellen Newsletter schreibt Civaka Azad:
Seit Wochen gibt es in der Türkei kein anderes Thema. Am Sonntag ist es dann endlich soweit - das türkische Parlament und der neue Präsident des Landes werden gewählt. Die jüngsten Umfragen sind weiterhin knapp, mit leichten Vorteilen für den Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu. Aber entschieden ist noch nichts. Auch ein zweiter Wahlgang für das Amt des Präsidenten scheint durchaus möglich. Sollte keiner der vier Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen, wird am 28. Mai zwischen den beiden Bestplatzierten – das wären dann Erdoğan und Kılıçdaroğlu – nochmal zum Urnengang aufgerufen.
Darauf lässt es der Amtsinhaber Erdoğan derzeit ankommen. Denn ein Wahlsieg für ihn in der ersten Runde scheint unwahrscheinlich. Um in die zweite Runde zu gelangen, setzt er auf Muharrem Ince, der ebenfalls um das Amt des Präsidenten kandidiert. Wirkliche Erfolgsaussichten hat Ince nicht. Umfragen sehen ihn bei zwei bis drei Prozent. Doch das könnten am Ende die Wähler:innenstimmen sein, die Kılıçdaroğlu für den Wahlsieg in der ersten Runde fehlen.
Während in den Parteizentralen fleißig über den möglichen Wahlausgang spekuliert wird, wird die Stimmung auf den Straßen immer rauer. Am Sonntag musste der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu einen Wahlkampfauftritt in Erzurum abbrechen, weil Steine auf den Wahlkampfbus flogen, auf dessen Dach er seine Rede zur Wahl seines Parteikollegen Kılıçdaroğlu hielt. Am gleichen Tag wurde ein Wahlkampfauto der Grünen Linkspartei in Mersin attackiert, fünf Personen wurden dabei verletzt.
Hinter den Angriffen stehen aufgehetzte Anhänger:innen der rechtsextremen MHP und der regierenden AKP. MHP-Chef Bahçeli bezeichnete die Oppositionsparteien und ihre Unterstützer:innen als Verräter:innen, denen lebenslange Haft oder eine Kugel in die Brust gebühre. Dasselbe Narrativ griff Erdoğan bei seinem Wahlkampfauftritt in Istanbul auf, als er ein Video zeigte, in dem zunächst sein Konkurrent Kılıçdaroğlu und dann das KCK-Exekutivmitglied Murat Karayılan zu sehen waren. Die Message dahinter ist eindeutig, Erdoğan ruft seine Anhänger:innen dazu auf, bei den Wahlen das „Vaterland“ vor einem vermeintlichen Bündnis der Opposition mit der PKK zu retten. Sein Innenminister Soylu bezeichnete die Wahlen kürzlich gar als „politischen Putschversuch“.
Dass diesen verbalen Aufstachelungen auch Taten folgen, haben wir am vergangenen Wochenende gesehen. Eine Entspannung der Lage ist bis zum Wahltag und möglicherweise darüber hinaus nicht zu erwarten. Dies gilt insbesondere für die kurdischen Siedlungsgebiete, die seit Wochen unter der Repression des Regierungsblocks leiden. 295 Mitglieder der HDP und der Grünen Linkspartei wurden allein in den letzten vier Wochen verhaftet. Hinzu kommen dutzende inhaftierte kurdischstämmige Journalist:innen und Rechtsanwält:innen, die für Transparenz und Sicherheit der Wahlen hätten sorgen können. Erdoğan hat zweifellos Angst vor den Wahlergebnissen aus den kurdischen Siedlungsgebieten. Der AKP droht in Nordkurdistan ein Debakel, die HDP als stärkste Kraft in der Region hat zur Wahl von Kılıçdaroğlu aufgerufen.
Um möglichen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen in den kurdischen Siedlungsgebieten vorzubeugen, wird es nicht nur, aber vor allem wichtig sein, den Blick auf die mehrheitlich kurdischen Gebiete zu richten. Diese Region ist besonders anfällig für Wahlmanipulationen. Denn hier hat sich die AKP in den vergangenen Jahren durch Absetzung der gewählten Bürgermeister:innen an die politische Macht geputscht. Zudem schafft die übermäßige Präsenz von Militär, Polizei und Dorfschützern eine Drohkulisse, unter der eine freie Wahl nur schwer vorstellbar ist. Die Menschen werden am Sonntag unter den Bedingungen des Ausnahmezustands an die Urnen gehen.
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